Herzogenaurach/Hamburg. Kai Havertz gilt schon lange als das Toptalent, für das Joachim Löw nur selten Verwendung fand. Bei dieser EM ist der Bann gebrochen.

Kai Havertz ist ein Vollstrecker. Das hat er auch am Montag unter Beweis gestellt. Hoher Ball, der 1,89-Meter-Schlacks hebt ab, Kopfball, Jubel. Der einzige Haken: Havertz‘ fieser Kopfballtreffer findet keine Berücksichtigung in der offiziellen EM-Torschützenliste der Uefa. Doch anders als beim 4:2-Sieg gegen Portugal, als der Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1 zunächst Havertz und erst nach der sechsten Zeitlupe dem Portugiesen Rúben Dias als Eigentor zugeschrieben wurde, ist die Beweisführung am Montag deutlich einfacher. Schließlich hat Havertz lediglich beim Fußballtennis im Training in Herzogenaurach für sein Team mit Timo Werner, Bernd Leno und Marcel Halstenberg den wichtigen Punkt per Kopfball gegen Überflieger Robin Gosens, Kevin Trapp, Robin Koch und Christian Günter erzielt.

Doch über seine offizielle EM-Statistik muss sich der 22-Jährige trotzdem keine allzu großen Gedanken machen. Nachdem er auch bei Raphael Guerreiros Eigentor zum 2:1 maßgeblich beteiligt war, schoss Havertz das Tor zum 3:1 dann doch lieber selbst. Mit 22 Jahren und acht Tagen war er dabei sogar der jüngste deutsche EM-Torschütze aller Zeiten und löste Schalke-Legende Olaf Thon ab, der bei seinem Treffer 1988 beim 2:0-Sieg gegen Dänemark 36 Tage älter war.

Kai Havertz zeigt gegen Portugal eine starke Leistung

Wichtiger als dieser Rekord dürfte Havertz aber zweierlei gewesen sein. Erstens der Erfolg der Mannschaft, den manch ein Kritiker nach dem 0:1 gegen Frankreich nicht für möglich gehalten hatte. Und zweitens seine eigene Topleistung, die eine ganze Heerschar von Kritikern nach dem ausbaufähigen Frankreich-Spiel sogar als schier unmöglich dargestellt hatten. Doch Havertz spielte gegen Portugal nicht nur gut, er spielte sehr gut.

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Man kann nach diesem Länderspiel möglicherweise sogar die Frage stellen, ob es Kai Havertz‘ bestes Nationalmannschaftsspiel war. Über sein wichtigstes gibt es dagegen keine Diskussionen. Das liegt bereits mehr als fünf Jahre zurück. Bei der Qualifikation zur U-17-EM spielte Havertz mit dem DFB-Nachwuchs in Düsseldorf gegen die Niederlande. Jonas Boldt, damals noch Bayers Sportdirektor, schnappte sich Leverkusens damaligen Profitrainer Roger Schmidt, um ihn dieses Talent einmal in Aktion zu zeigen. „Kai wollte zunächst gar nicht die U19 überspringen. Aber als Roger ihn beim U-17-Länderspiel in Düsseldorf sah, war klar, dass er ihn gerne zu den Profis hochziehen wollte“, erinnert sich Boldt, der heute Sportvorstand beim HSV ist.

Kai Havertz dreht am Montag beim DFB-Training entspannt eine Runde mit dem Fahrrad.
Kai Havertz dreht am Montag beim DFB-Training entspannt eine Runde mit dem Fahrrad. © Getty

Havertz ist kein gewöhnlicher Spieler. Diesen Satz hörte Boldt, der zwölf Jahre lang für Bayer arbeitete, immer wieder. „Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, dass sich Kai als sogenanntes Jahrhunderttalent sieht, fühlt und präsentiert. Und genau das spricht für ihn und seine Bescheidenheit“, sagt Boldt, der sich vor allem an das erste Treffen mit dem gerade einmal zehnjährigen Kai noch gut erinnert. Gemeinsam mit Michael Reschke, dem damaligen Kaderplaner, hatte Boldt den Knirps und seine Eltern in die BayArena eingeladen, um dem Aachener Talent einen Wechsel nach Leverkusen schmackhaft zu machen. Doch der Filius sagte ab. „Ich fand es schon außergewöhnlich, dass Bayer Leverkusen einen jungen Spieler holen wollte – und der Spieler selbst zunächst dankend ablehnte, weil ihm das noch zu früh war“, sagt Boldt.

Bayer Leverkusen überzeugte Kai Havertz

Doch Boldt und Leverkusen blieben dran. Sie schickten dem jungen Havertz ein beflocktes Trikot, luden ihn und seine Familie zu einem Bundesligaspiel ein – und durften sich dann ein Jahr später über ihre Hartnäckigkeit freuen. Einzige Bedingung der Eltern: Sie wollten bei der Auswahl der Gastfamilie ein Wörtchen mitreden. Havertz zog zunächst zum früheren Stadionsprecher Klaus Schenkmann, ehe er wenig später eine WG mit seinem sieben Jahre älteren Bruder Jan in Köln aufmachte.

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In Herzogenaurach bildet Havertz nun eine WG der Frühreifen mit Joshua Kimmich, Leroy Sané und Bernd Leno. Kimmich war bereits mit 20 Jahren Stammspieler bei Bayern München, Sané schoss mit 18 Jahren sein ersten Bundesligator und Leno verdrängte als 19-Jähriger den Ex-Nationaltorhüter René Adler. Doch das Nesthäkchen der Frühreifen war und ist Havertz. Sogar Bundestrainer Joachim Löw, der sich lange zierte, das Talent ins kalte Becken zu schmeißen, spricht mittlerweile von „einer märchenhaften Geschichte“, wenn man nach Havertz fragt.

Dabei ist es gerade einmal 18 Tage her, dass die „Bild“-Zeitung von der „Havertz-Klemme“ schrieb. So habe Löw in seinem favorisierten System einfach keinen Platz für „König Kai“. Als seine Majestät dann aber doch gegen Frankreich auflief, und nicht sofort den Unterschied ausmachte, war der Diskussionsbedarf groß. Und als sich auch noch Ilkay Gündogan für Kumpel Sané starkmachte, erwartete der eine oder andere Experte, dass Havertz gegen Portugal Platz machen müsste.

Kai Havertz entscheidet Champions-League-Finale für Chelsea

Musste er aber nicht, was auch Wegbegleiter Boldt freute. „Natürlich war Kai immer ein ganz besonderer Spieler. Mir hat vor allem diese Eleganz gefallen. Er ist aber auch ein sehr schneller Spieler, was ungewöhnlich ist, da er ja ziemlich groß ist.“

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Ein echter Riese des Weltfußballs wurde Havertz mit seinem goldenen Treffer im Champions-League-Finale für Chelsea gegen Favorit Manchester City vor dreieinhalb Wochen. „Das Gefühl, das ich hatte, als der Ball im Tor lag, das werde ich mein Leben lang in mir tragen“, sagte Havertz später im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.

Natürlich hat auch Boldt ihm eine Glückwunsch-SMS geschrieben. „Er ist kein Lautsprecher“, sagt der Manager. „Kai geht auf den Platz und zeigt dort Leistung.“ Im Champions-Finale, bei der Europameisterschaft. Und eben auch beim Fußball-Tennis.