Clairefontaine. Didier Deschamps (52) kann als Trainer der französischen Nationalelf Historisches erreichen. Im Interview spricht er über seine Pläne.

Didier Deschamps ist ein Großer des Weltfußballs. Der Franzose, 1998 als Kapitän und 2018 als Trainer Weltmeister, kann nun den nächsten Titel gewinnen und damit Geschichte schreiben: Europameister als Spieler war er schon im Jahr 2000, Europameister als Trainer noch nicht. In diesem Interview, das er vor dem ersten EM-Gruppenspiel gegen Deutschland mit unserer französischen Partnerzeitung Ouest-France führte, spricht der 52-Jährige über seine persönliche Entwicklung als Trainer, über die Besonderheit, eine Gruppe von 26 Spielern unter strengen Hygienebedingungen in einer Blase führen zu müssen, und über die Rückhol-Aktion von Star-Stürmer Karim Benzema von Real Madrid.

Zum ersten Mal leben Sie mehrere Wochen in einer komplett geschlossenen Blase mit 26 Spielern. Müssen Sie noch aufmerksamer als zuvor auf das Zusammenleben des Teams achten?

Didier Deschamps: Diesem Punkt wurde von mir und meinen Mitarbeitern immer sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn Sie zu einem solchen Wettbewerb gehen, dürfen Sie unterwegs niemanden verlieren. Die Freiheit ist immer noch eingeschränkt. Für die Spieler, aber auch für den ganzen Stab. Die Uefa ist sehr streng. Wir werden tun, was von uns verlangt wird. Beim kleinsten positiven Test ist es vorbei. Im Moment gibt es kein Problem, alle sind glücklich. Dann kommt das erste Spiel, das zweite, und es gibt Spieler, die nicht zur Anfangself gehören. Mit einem Kader von 23 Spielern gab es bereits Enttäuschungen. Wir werden 24 Stunden am Tag zusammen sein. Aber wir lieben uns sehr, das ist in Ordnung (lächelt). Es geht darum, die Zeit sinnvoll zu füllen.

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Werden Trainer und Ersatzspieler in dieser besonderen, sehr langen und vom Coronavirus geprägten Saison wichtiger denn je sein?

Didier Deschamps: Es gibt Sieger-Coaching und Verlierer-Coaching. Ja, die Frische wird wichtig sein in diesem Turnier. Aber es gibt ja jetzt fünf Wechsel-Möglichkeiten im Spiel. Einige nutzen sie aber nicht.

Das Management der Fälle Karim Benzema und Adrien Rabiot, also der sogenannten verbannten Spieler, die jetzt zurückgekehrt sind, sagt dies etwas darüber aus, wer Sie sind oder wie Sie funktionieren?

Didier Deschamps: Ich habe keine Verbannten. Ich mag es nicht, radikale Entscheidungen für irgendjemanden zu treffen. Wer mich sehr gut kennt, wird sich nicht wundern. Ich stehe im Dienste des französischen Teams, es gehört mir nicht. Ich treffe Entscheidungen zum Wohle des französischen Teams. Seit ich Trainer bin, war das immer so. Manche kommen zurück, andere verirren sich, sind weniger stark, sind Opfer des Konkurrenzkampfes oder ihrer körperlichen Verfassung. Ich achte darauf, jedes Mal die Gruppe mit Sauerstoff zu versorgen.

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Antonio Rüdiger.
Von Kai Schiller und Sebastian Weßling

Die Rückhol-Aktion von Karim Benzema hat eine große populistische Wirkung.

Didier Deschamps: Seit ich hier bin, wurde ich zu keinem Zeitpunkt gedrängt, den einen oder anderen Weg zu gehen. Intern gab es noch nie Probleme, und das wird sich auch jetzt nicht ändern. Die Gefahr, sie steht auf gedrucktem Papier. Wir sind die Besten, steht dort geschrieben. Bald werden wir die Spiele gewinnen, bevor wir das Feld betreten. Ja, wir haben auf allen Positionen starke Argumente, aber es wird etwas anderes benötigt.

Wie lässt man Karim Benzema mit Antoine Griezmann und Kylian Mbappé zusammenspielen? Ein Trio, über das alle sprechen.

Didier Deschamps: Ich habe acht Offensivspieler, die alle von hoher Qualität sind. Es wird eine Start-Option geben, die auch geändert werden kann. Das ist interessant, ja. Ich denke viel darüber nach, ich rede auch viel mit den Spielern. Ja, es wird einen Wettbewerb geben, und wir werden das regeln. Aber ich konzentriere mich nicht nur auf Karim, Grizou und Kylian. Es geht nicht nur um dieses Trio oder die acht Stürmer, sondern auch um die Verbindung zu der Kette dahinter, damit alle Spieler auf ihrer besten Position stehen.

Was ist der Unterschied zwischen dem Didier Deschamps bei seinem ersten Turnier als Nationaltrainer, der WM 2014 in Brasilien, und dem von 2021?

Didier Deschamps: Es gibt eine Entwicklung, auch durch die Spieler, die andere sind. Man muss sich erneuern können in der Art und Weise, wie man arbeitet. Ich habe einige Dinge seit mehreren Jahren geändert, um eine Ruhe und Gelassenheit zu haben, die niemand stören kann. Das war nicht unbedingt der Fall, als ich Vereinstrainer war, und auch nicht am Anfang mit dem Nationalteam. Damals war ich vielleicht impulsiver. Man muss mit Situationen konfrontiert werden, um zu lernen, die richtige Perspektive zu haben. Das ist nicht einfach.

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Haben Sie ein Beispiel für einen Fehler, der Ihnen geholfen hat?

Didier Deschamps: Ich sage Ihnen eines, und es betrifft Sie, die Medien. Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich von allem, was gesagt oder geschrieben werden kann, getrennt habe. Das interessiert mich nicht, und das wird auch bis zum Schluss so bleiben. Das ist eine Haltung, die ich seit geraumer Zeit einnehme. Ich weiß, dass die Spieler mehr oder weniger betroffen sein können, aber ich wiederhole: Das Wichtigste ist, was ich Ihnen sage, nur das.

Geht es Ihnen nur um die Kontrolle innerhalb der Gruppe?

Didier Deschamps: Meine Mitarbeiter spielen auch eine wichtige Rolle. Ich bin doch kein Polizist. Zu den Spielern besteht ein Vertrauensverhältnis, weil ich ihnen meine Meinung sage, auch wenn es nicht immer angenehm ist. Das Leben eines Trainers besteht darin, Entscheidungen zu treffen. Es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Aber ich frage mich nicht mehr, was wäre, wenn. Weil ich die Antwort nicht habe. Ich habe mir jedoch immer die Zeit genommen, die Vor- und Nachteile abzuwägen. Ich sage mir nicht: Was ist, wenn es schief geht? Alles in meinem Kopf ist darauf ausgerichtet, dass es gut läuft.

Ist es schwer, vor und während eines großen Wettbewerbs einzuschlafen?

Didier Deschamps: Nein, wirklich nicht. Schlaf ist wichtig. Ich kann mit Gedanken einschlafen, sogar mit Zweifeln, aber wenn ich aufwache, habe ich einen klaren Kopf. Ein weiteres Beispiel: Seit der WM in Russland kaue ich nicht mehr an den Nägeln. Es war mehr als ein nervöser Zustand, es war zur Gewohnheit geworden.

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Haben Sie ein besseres Team als 2018?

Didier Deschamps: Das kann man nicht vergleichen. 2018 waren wir besser als alle anderen, das war‘s. Ich hoffe, Ihnen in einigen Wochen dasselbe sagen zu können. Zum ersten Mal haben wir drei so starke gegnerische Mannschaften in der Gruppe, von denen zwei, Deutschland und Ungarn, zu Hause spielen. Die Gastgeberländer, die zwei oder drei Heimspiele in ihrer Gruppe bestreiten, haben einen großen Vorteil.

Wissen Sie, wer als Spieler und dann als Trainer schon die WM und die EM gewonnen hat?

Didier Deschamps: Das interessiert mich überhaupt nicht. Niemand? Es wird unweigerlich eines Tages geschehen, wir werden sehen. Das ist keine falsche Bescheidenheit, ich bin selbstverständlich hier, um so erfolgreich wie möglich zu sein. Aber mich interessiert, was jetzt ansteht. Ich konzentriere mich nur auf eines: alles bis ins Detail zu optimieren und topfit zu sein für das erste Spiel gegen Deutschland.

Mitarbeit: Thomas Lelgemann