Seefeld. Emre Can von Borussia Dortmund deckt viele Defensivpositionen ab. Das garantiert ihm seit Jahren einen Platz in der Fußball-Nationalmannschaft.

Beinahe hätte es geklappt. Ein, zwei schnelle Schritte macht Emre Can, dann fliegt er mit eingesprungener Grätsche in Richtung Kevin Volland. Doch der Stürmer hat es rechtzeitig gesehen, legt den Ball gerade noch vorbei an Can. Und der steht mit grimmiger Miene auf und brüllt einige wenig jugendfreie Wörter über den Fußballplatz von Seefeld.

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Emre Can will eben immer gewinnen, selbst wenn es nur ein Trainingsspielchen ist. Das gilt bei seinem Heimatverein Borussia Dortmund und erst recht in der Vorbereitung auf die Europameisterschaft (11. Juni bis 11. Juli). Dieser Geist, dieser Ehrgeiz, diese Mentalität ist eine seiner großen Stärken – aber nicht die einzige: Wenig später wackelt Can einmal mit der Hüfte, verschafft sich so etwas Raum und schlenzt den Ball an Bernd Leno vorbei in den Winkel.

BVB-Profi Can über die Saison: "Es war schon extrem"

Der 27-Jährige gehört zu jener eher seltenen Sorte Spieler, die beides im Repertoire haben, den verbissenen Kampf ebenso wie Geschick im Umgang mit dem Ball. Das hat ihm in der laufenden Saison Einsätze auf fast allen Defensivpositionen eingebracht: Rechtsverteidiger, Linksverteidiger, Innenverteidiger, defensiver Mittelfeldspieler – all das hat Can in den letzten Monaten gegeben. „Es war diese Saison schon extrem, wie viele Positionen ich gespielt habe“, sagt Can. „Es ist gar nicht so einfach, sich auf so viele unterschiedliche Positionen einzustellen.“

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Die Vielseitigkeit, sie ist Fluch und Segen für Can. Einerseits garantiert sie ihm seit Jahren einen Platz in der Nationalmannschaft und nun auch im EM-Kader, weil der gebürtige Frankfurter viele Positionen zuverlässig abdeckt. Andererseits kann er sich nirgends wirklich festspielen – und muss auch deswegen mit dem ständigen Vorbehalt leben, dass es auf jeder seiner Positionen Spezialisten gibt, die es noch ein bisschen besser können.

Can - beteiligt am blamablen 1:2 gegen Nordmazedonien

Dennoch hat Can alle drei Länderspiele im Jahr 2021 über die vollen 90 Minuten absolviert – was allerdings auch bedeutet, dass er beteiligt war am blamablen 1:2 gegen Nordmazedonien. Can muss sich also auch angesprochen fühlen, wenn Bundestrainer Joachim Löw anmahnt, dass die Defensive deutlich besser werden muss. Das allerdings möchte der Allrounder so nicht komplett stehen lassen: „Die ganze Mannschaft muss sich angesprochen fühlen, nicht nur die Abwehrspieler“, sagt er. Die Grundsatzkritik aber teilt er. „Der Bundestrainer hat Recht, wir haben zu viele Gegentore in den letzten Spielen kassiert, das muss sich ändern. Die Basis ist, kein Tor zu kassieren – und vorne können wir immer eins schießen.“

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Aber darf Can dabei auch helfen? Durch die Rückkehr von Mats Hummels wurde die Defensive massiv verstärkt, ein Platz ist fest vergeben. Und Can weiß noch gar nicht, wo ihn der Trainer einplant. Zur not auch rechts, wo er sich eigentlich nicht so wohlfühlt, wo aber in Lukas Klostermann nur eine Fachkraft im Kader steht. „Ich will immer spielen, das ist mein Anspruch, egal wo ich bin“, sagt er. „Aber wo ich spielen werde, kann ich heute nicht sagen.“

Am liebsten im zentralen Mittelfeld, das allerdings durch Toni Kroos, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan und Leon Goretzka eigentlich schon überbesetzt ist – theoretisch. Praktisch ist Goretzka noch verletzt, Kroos an Corona erkrankt und Gündogan nach dem Champions-League-Finale noch gar nicht bei der Mannschaft – da könnten sich die Karten noch einmal neu mischen.

Für Can spricht auch seine Art auf dem Platz. Der Bundestrainer schätzt es, wenn Spieler laut sind, kommunikativ ist. Das liegt dem BVB-Profi im Blut und das legt er auch nicht ab, wenn er in der DFB-Auswahl auf viele weitere Alphatiere trifft. „Ich fahre nicht zur Nationalmannschaft und denke: Jetzt darf ich nichts sagen“, erklärt er. „Ich bin auf dem Platz ab und zu mal laut, das will ich auch bei der Nationalmannschaft sein. Wenn ich auf dem Platz das Gefühl habe, dass ich etwas sagen muss, dann mache ich das, um der Mannschaft zu helfen.“

Und das am liebsten bis zum Finale in London. „Die Chancen sind gut“, findet Can, obwohl man in der Gruppe auf Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Ungarn trifft. „Es wird nicht einfach“, weiß Can. „Aber wenn man auf die Mannschaft und die einzelnen Spieler schaut, müssen wir uns vor keinem verstecken.“ Viele gute Einzelspieler seien dabei, die Mischung aus jungen wilden und erfahrenen Spielern stimme. „Deswegen können wir mit Selbstvertrauen in die EM gehen“, sagt Can.

In der Hinsicht macht ihm ohnehin niemand etwas vor – und das Trainingsspielchen hat seine Mannschaft am Ende auch gewonnen.