Hamburg. Martin Sauer, Steuermann des Deutschland-Achters, spricht über die schwierigste Saison seiner Karriere.

Es war das versöhnliche Ende der schwierigsten Saison der jüngeren Ruder-Geschichte. Eine Woche nach dem EM-Triumph von Posen siegte der Deutschland-Achter am Sonntag beim Kanal-Cup über 12,7 Kilometer zwischen Breiholz und Rendsburg. „Wenn am Ende dieses Krisenjahres der Erfolg steht, weiß man, dass sich die Arbeit gelohnt hat“, sagt Steuermann Martin Sauer. Zuvor hatte das Paradeboot des Deutschen Ruder-Verbandes über Monate keinen Wettkampf bestreiten können. Im Interview spricht der Berliner über die schwierigste Saison seiner Karriere.

Herr Sauer, wie haben Sie den 24. März erlebt, den Tag, an dem die Olympischen Spiele in Tokio um ein Jahr verschoben wurden?

Martin Sauer: Spätestens nach der Absage der Fußball-EM war jedem von uns klar, dass das passieren kann. Als die Nachricht kam, herrschte dennoch bei uns allen eine große Leere. Wir haben schließlich auf dieses Ziel vier Jahre hingearbeitet.

Zum Zeitpunkt der Verschiebung war durch Corona an reguläres Training ohnehin nicht mehr zu denken…

Sauer: In der Tat. Unser Trainingslager am Lago Azul in Portugal endete vorzeitig am 15. März. Die Trainer informierten uns um 15 Uhr, dass wir am Abend unsere Sachen packen und am nächsten Morgen über Lissabon zurückfliegen werden. Damit waren alle Diskussionen beendet.

Worüber wurde zuvor diskutiert?

Sauer: In der Mannschaft waren wir uns einig, dass wir notfalls auf unbestimmte Zeit am Lago Azul bleiben, um uns weiter unter sehr guten Bedingungen auf die Spiele vorzubereiten. Wir wussten ja, dass unser Trainingszentrum in Dortmund geschlossen wird. Und am Lago Azul konnten wir beinah wie in Quarantäne leben. In der abgeschiedenen Apartment-Anlage gab es nur fünf, sechs Angestellte, die an der Rezeption oder in der Küche gearbeitet haben. Das nächste Dorf war 20 Autominuten entfernt, da ist eh kaum jemand hingefahren. Was Corona anging, war unser Quartier eines der sichersten Orte der Welt. Aber dann kam die Entscheidung von oben.

Haben Sie sich mit den anderen Athleten noch einmal in Dortmund getroffen?

Sauer: Wir haben nur die Boote und die Ausrüstung ausgeladen und in die Halle gebracht. Und die Jungs konnten sich Ergometer ins Auto packen, um zuhause trainieren zu können. In einer WG in Dortmund, wo vier Athleten von uns wohnen, lief von morgens bis abends das Ergo. Zum Glück waren die Nachbarn sehr verständnisvoll. Denn das Gerät ist ganz schön laut.

"Wir saßen buchstäblich auf dem Trockenen"

Wie haben Sie sich fitgehalten?

Sauer: Für mich war kein Ergo mehr da, wir mussten ja auch die Athleten der anderen Boote versorgen. Ich habe dann nach Video-Anleitungen aus dem Internet trainiert. Das hatte ja damals Hochkonjunktur. Ganz ehrlich, mich hat das extrem runtergezogen. Unsere ganze Saison war ja so geplant, dass wir außer Rudern nicht viel vorhatten. Wir saßen buchstäblich auf dem Trockenen. Da hat man gemerkt, wie einsam man werden kann, wenn man immer gewohnt ist, andere Leute um sich zu haben. Zum Glück war meine Freundin in dieser Phase auch im Homeoffice.

Sie sind Jurist. Haben Sie diese Phase genutzt, um sich für die Zeit nach der Karriere vorzubereiten?

Sauer: Nein. Die Entscheidung über Tokio war zu dem Zeitpunkt ja noch völlig offen. Also habe ich mir viele Gedanken gemacht, wie wir am besten wieder zusammenfinden, um konkurrenzfähig für die Spiele zu werden.

"Die Motivation war total im Keller"

Stattdessen kam die Verschiebung auf 2021…

Sauer: Ja, entsprechend groß war dann das Loch. Uwe (Bender, Cheftrainer, die Red.) hat die Vorgaben für das Training daheim dann stark runtergefahren. Davor haben die Jungs wirklich hart gearbeitet, ich habe jeden Tag die Ergo-Zeiten gesehen, die die Jungs in die Gruppe geschrieben haben. Doch mit der Verschiebung war ein Tiefpunkt erreicht. Die Motivation war total im Keller.

Sie werden im Dezember 38. Haben Sie überlegt, Ihre Karriere zu beenden?

Sauer: Ja, an dem Tag habe ich mir viele Gedanken gemacht. In meinem Alter wird der Körper mit jedem Jahr, was noch hinzukommt, richtig beansprucht. Und ein weiteres Jahr im Spitzensport ist auch nicht vorteilhaft für den beruflichen Einstieg. Für diese Spiele hatte ich noch einmal alles investiert. Tokio 2020 war meine Ziellinie. Und wenn jemand diese Ziellinie verschiebt, wird das schwierig. Ich habe mich dann am Nachmittag noch mit Richie (Richard Schmidt, die Red.) getroffen, nach mir der Älteste im Boot. Für ihn war klar, dass er weiter machen wird. Und für die anderen Jungs auch.

Also blieb der Steuermann auch an Bord.

Sauer: Ja, als ich gemerkt habe, dass alle Jungs unbedingt dabei bleiben wollten, konnte ich mich nicht verabschieden. Ich habe das Ding mit angezettelt. Dafür bin ich auch zu motiviert.

"In Wahrheit waren sie außer Form"

Als das Trainingszentrum im April wieder öffnete, war zunächst nur Training in Kleinbooten erlaubt. Also ohne Steuermann.

Sauer: Die Jungs waren so glücklich, dass sie wieder aufs Wasser durften. Und entsprechend überzeugt, wie gut es schon wieder läuft. Für mich war die Situation dagegen extrem frustrierend. Zum einen, weil ich nur zuschauen konnte. Und zum anderen, weil ich gesehen habe, wie falsch die Jungs mit ihrer Einschätzung lagen. In Wahrheit waren sie außer Form. Die Automatismen waren regelrecht eingerostet. Völlig verständlich. Keiner von ihnen hat seit Beginn seiner Ruderkarriere jemals eine so lange Pause gemacht. Mir tat das in der Seele weh, weil ich weiß, wie hart meine Mannschaft arbeitet. Und das erste, was ich den Jungs sagen musste, war: Schön, dass es Euch Spaß gemacht hat. Aber es ist viel, viel zu wenig, um international mithalten zu können.

Sie sind eher Mahner, oder?

Sauer: Es gibt im Spitzensport immer genügend Leute, die sagen, ist schon okay. Reicht angesichts der schwierigen Umstände. Diese Leute haben ja auch irgendwie Recht, zumal die Pause absolut unverschuldet war. Aber das kann nicht unser Maßstab sein. Und deshalb müssen wir den Gipfel, den wir schon fast erreicht hatten, noch einmal aus der Talsohle erklimmen. Ich weiß, wie frustrierend das ist. Aber ich kann in dieser Situation nicht den Gute-Laune-Onkel geben. Deshalb gab es in den vergangenen Wochen öfters Streit, Ärger und Tränen. Wir reden über die bislang härteste Prüfung für den Achter. Ich hoffe, dass uns dies am Ende zu einer noch besseren Mannschaft machen wird. Aber das ist offen. Man kann an solchen Problemen wachsen. Oder zerbrechen.

Wie lief die erste Einheit im Achter mit Ihnen als Steuermann im Mai?

Sauer: Die allererste Einheit war sehr gut. Die Jungs waren hochmotiviert, hatten richtig Bock, wieder Großboot zu fahren. Da hatte ich nicht viel zu meckern. Aber ich wusste, eine solche Leistung können wir nicht jede Woche bringen. Da wurden die Körner rausgeschossen, obwohl die Physis noch gar nicht da war. Das hat sich dann auch in den nächsten Einheiten gezeigt, wo wir stark abgebaut haben. Ich durfte die Dinge nicht laufen lassen in der Hoffnung, dass sich das schon von alleine regelt. Meine Erfahrung sagt mir, dass man dann leider auf dem Niveau hängen bleibt. Der Anspruch, besser zu werden, kommt bei schlechten Athleten erst im Rennen selbst. Dann merken sie, Mensch, der andere im Boot ist besser, ich muss mich steigern. Das kann nicht funktionieren. Daher muss ich darauf hin arbeiten, dass wir jetzt das Niveau steigern. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass wir ja nicht daran schuld sind, dass die Covid-19-Krise über uns hereingebrochen ist. Davon muss man sich frei machen, damit das nicht zur Ausrede wird.

Ist das eher ein Problem der Kraft oder der Technik?

Sauer: Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wenn die Physis nicht reicht, können wir unsere anspruchsvolle Technik nicht fahren. Wir brauchen die Kraft und Ausdauer, um vormittags und nachmittags bis zu 20 Kilometer auf höchstem Niveau durchzustehen. Die hatten wir nicht. Die Jungs haben schon nach einer Woche geklagt: Mir tut alles weh, wie sollen wir das nur schaffen? Ich kann dann aber nicht sagen, tut mir leid, bitte macht das trotzdem. Sondern ich muss sagen: Arschbacken zusammenkneifen. Wir müssen da jetzt durch, damit es irgendwann mal besser wird. Und es wird jetzt auch besser. Aber das hat auch zwei, drei Monate gedauert.

"Es gehört zu meinem Job, das aushalten zu können"

Mit einer solchen Ansprache macht man sich in der Mannschaft nicht beliebt.

Sauer: Das ist auch nicht meine Aufgabe. Du stehst in einer solchen Situation einer Gruppe von Männern gegenüber, die dir sagen, wir können nicht mehr. Und die möglicherweise denken, du hast gut reden, du musst dich als Steuermann nicht so quälen wie wir. Da haben sie ja auch Recht. Es gehört zu meinem Job, das aushalten zu können. Da muss ich sie dann, so hart es klingt, ein bisschen durchprügeln durch diese Phase.

Schlagmann Hannes Ocik sagt über Sie, Sie seien der ehrgeizigste Mensch auf diesem Planeten.

Sauer: Ich kann das nicht beurteilen, weil ich nicht alle Menschen auf der Welt kennen kann. Ich will das bestmögliche Rudern erreichen. Ja, ich bin ehrgeizig bis zur Verbissenheit. Das äußert sich in guten und in schlechten Bahnen.

Was sind die schlechten Bahnen?

Sauer: Man ist ja nicht immer von Leuten umgeben, die das gleiche Ziel mit dem gleichen Ehrgeiz verfolgen. Ich bin darauf angewiesen, dass die Menschen umsetzen, was ich nur in der Vorstellung habe. Der Ehrgeiz macht es dem ein oder anderen auch schwer, mit mir umzugehen, weil ich mich ungern mit weniger zufrieden gebe. Aber nicht jeder Mensch ist gleich. Es gibt auch Tage, wo man mal locker lassen müsste, aber das fällt mir dann schwer. Das muss ich zugeben.

Wie gut können Sie abschalten?

Sauer: Wenn es im Training schwierige Situationen mit der Mannschaft gibt, nehme ich das mit nach Hause. Das beschäftigt mich oft noch lange.

Menschen mit Ihrer Einstellung gelten als Burnout-gefährdet.

Sauer: Ich weiß. Und weil ich es weiß, kann ich die Gefahr gut einschätzen. Und auf mich aufpassen.

Waren Sie als Kind auch schon so fokussiert, so ehrgeizig?

Sauer: Da hat mich der Beginn meiner Karriere geprägt. Beim Kinderrudern in Berlin gab es drei Steuerleute für zwei Boote. Da musste ich mich durchsetzen.

Hat Sie die Aufgabe des Steuermanns sofort gepackt?

Sauer: Mich hat auf jeden Fall gereizt, Verantwortung zu übernehmen. Der Trainer wusste, dass die Mannschaft keinen Blödsinn macht, wenn er sich mal ein paar Minuten mit etwas anderem beschäftigt. Aber es gab auch harte Phasen. Im einen der ersten Winter hatte ich die Mannschaft gut vorbereitet, habe dann aber das Mindestgewicht von 40 Kilo nicht geschafft. Also war ich raus bei den Rennen. Dann hatte ich die 40 Kilo auf den Rippen – und das Mindestgewicht ging hoch auf 45 Kilo. Wieder hieß es: Haste gut gemacht, aber bei den Rennen kannst du nicht mitmachen. Das war deprimierend.

"Wie groß mir jemand erscheint, hat nichts damit zu tun, wie groß er wirklich ist"

Als Steuermann sind sie immer von Ruderkameraden umgeben, die deutlich größer sind. Ist das ein Problem?

Sauer: Ich war immer der Kleinste, darauf wurde nie Rücksicht genommen. Ganz gut, denn so lernt man sich durchzusetzen. Der Größenunterschied hat mich nie gestört. Wie groß mir jemand erscheint, hat nichts damit zu tun, wie groß er wirklich ist. Manchmal sehe ich einen Zwei-Meter-Hünen, der ein Duckmäuser ist, der kommt mir richtig klein vor.

Wie fit muss ein Steuermann sein?

Sauer: Jeder der Jungs zieht vom Start weg 1000 Watt. Ein Steuermann braucht eine sehr gute Rumpfstabilität, damit er nicht rumgeschleudert wird wie ein nasser Sack. Und wir brauchen eine vernünftige Ausdauer, um gezielte Anweisungen geben zu können. Die Jungs müssen sich darauf verlassen, dass ich sie nicht vollschwalle.

"Ein Steuermann darf nicht lügen. Nie"

Wie groß ist die Versuchung, bei einem Rennen aus einer ganzen Länge Rückstand eine halbe Länge zu machen, damit die Mannschaft noch mehr Gas gibt?

Sauer: Ein Steuermann darf nicht lügen. Nie. Dann wäre das Vertrauen weg. Beim nächsten Rennen würden sie mir nicht mehr glauben.

Sie sind im Rennen auch verantwortlich für die Taktik, entscheiden binnen Sekunden, ob ein Zwischenspurt angezogen wird. Bei den Spielen in Rio 2016 haben Sie die Briten ziehen lassen. Warum?

Sauer: Weil ich gesehen habe, dass wir an diesem Tag die Briten nicht packen können. Also ging es darum, den zweiten Platz abzusichern.

Statt sich über die Silbermedaille zu freuen, wirkte das Team sehr enttäuscht. Offenbar zählt immer nur der erste Platz für den Achter. Wie verkraften Sie diesen Druck?

Sauer: Ganz gut, ich kann mit Druck prinzipiell gut umgehen. Das war auch schon als Kind so. In der Grundschule habe ich mal die Hauptrolle in „Till Eugenspiegel“ gespielt, ich war vorher nicht groß nervös. Das ist auch wichtig für meinen Job. Würde ich Hektik ausstrahlen, würde sich das sofort auf die Mannschaft übertragen. Panik kann ich mir nicht leisten. Wobei ich genau weiß, was in Tokio auf dem Spiel steht.

Herr Sauer, Ihr Team und Sie quälen sich nun für Spiele, von denen angesichts der Pandemie niemand weiß, ob sie wirklich stattfinden werden. Wie sehr belastet Sie das?

Sauer: Eine mögliche und dann endgültige Absage hat man immer im Hinterkopf. Deshalb ist es wichtig, dass die Verbände wieder Wettkämpfe ansetzen. Wir trainieren nicht für umsonst. Aber natürlich bleibt Tokio das große Ziel. Niemand weiß, was passiert, wenn eine so große Sportnation wie die USA vielleicht absagen muss, weil die Infektionszahlen zu sehr steigen. Und ausgerechnet dieses Land wird derzeit von einem Präsidenten regiert, der bei der Bekämpfung der Pandemie so sehr versagt. Aber wir haben darauf keinen Einfluss. Das ist auch eine Lebenserfahrung: Arbeiten für ein Ziel, obwohl es ungewiss ist, ob es überhaupt erreicht werden kann.

Hoffen wir das Beste. Die Spiele finden wie geplant statt. Haben Sie sich schon die passende Motivationsrede vor dem Start überlegt?

Sauer: Nein, die braucht es nicht. Jeder weiß, was nach dann fünf Jahren für uns auf dem Spiel steht.

„Olympia 20.20 – Auf dem Umweg nach Tokio“

Olympia.cover.JPG

Das komplette Interview mit Martin Sauer lesen Sie im Magazin „Olympia 20.20 – Auf dem Umweg nach Tokio“. Viele Sportlerinnen und Sportler berichten über ihr „Dann-doch-nicht-Olympiajahr“. Es ist für sechs Euro erhältlich an Kiosken und im Bahnhofsbuchhandel. Das Magazin kann man auch im Internet über www.2020magazin.de bestellen. Der Versand ist frei.