Melbourne. Die ersten Aufritte 2020 von Alexander Zverev waren enttäuschend. Er kämpft an zu vielen Fronten. Kriegt er in Melbourne die Kurve?

Als Alexander Zverev nach einem der heißesten Sommertage des letzten Jahres arglos in seiner Hotelsuite im Hamburger „Elysee“ schlummerte, wurde seine Tennisfirma von einem mittleren Erdbeben erschüttert. Ivan Lendl, der Mann, mit dem Zverev zusammen auf den Weltmeisterthron 2018 marschiert war, kündigte dem jungen Deutschen ohne Vorwarnung seine Dienste auf, es war ein außerordentlich unfreundlicher Akt mitten in einem Turnierengagement.

Und als ob die Trennungsnotiz zu nächtlicher Stunde nicht schon demütigend genug gewesen wäre, legte Lendl noch mit ein paar vergifteten Worten nach: „Eines Tages“ könne Zverev noch ein großer Spieler werden, aber er schlage sich mit zu vielen Problemen herum. Das nüchterne Ende der Rücktrittserklärung klang so: „Ich wünsche ihm für die Zukunft alles Gute."

Chance für neuen Impuls vertan

Zverev war damals grimmig erbost, er hatte Lendl einen solch stillosen Abschied nicht zugetraut. Aber genau genommen bot sich in jenen Tagen im Juli eine große Chance für den besten und erfolgreichsten Tennisspieler, den Deutschland seit den goldenen Zeiten von Boris Becker und Michael Stich besitzt. Lendl war auch gegangen, weil er mit Daddy Zverev, dem Architekt der Erfolgsstory bis dahin, über Kreuz gelegen hatte, nie hatten der Papa und der ehemalige Weltranglisten-Erste wirklich gedeihlich zusammengearbeitet.

Zverev hätte erkennen können, vielleicht sogar müssen, dass sich mit Lendls Abgang, mit diesem bedeutenden Moment überhaupt, eine Gelegenheit zum tiefgreifenden Neuanfang, zu einem neuen Impuls bot. Denn schon damals steckte Zverev in einer Sinnkrise, in einer Ergebniskrise auch, die Stagnation in seinem ganzen Auftritt war unverkennbar. Doch was ihm wohl auch Boris Becker bei einem Gespräch während einer Hamburger Stippvisite durch die Blume nahelegte, sich nämlich unabhängiger und noch viel eigenständiger zu machen, wehrte Zverev mit bekannten Worten ab: Sein Vater sei auch sein Trainer, es gebe keinen Grund, etwas zu verändern.

Zverev bleibt trotz Formkrise größter Hoffnungsträger

Knapp ein halbes Jahr später saßen Becker und Zverev wieder zusammen, es war allerdings ein noch viel unschöneres Bild als im letzten Sommer. Denn aus allernächster Nähe erlebte Becker als Teamchef beim ATP Cup im australischen Brisbane mit, wie Zverev ein Spiel nach dem anderen bei dem neugeschaffenen Wettbewerb verlor – und wie dem 22-jährigen DTB-Spitzenprofi komplett die Sicherungen durchbrannten.

Von der vorübergehenden Stabilisierung an seinem Arbeitsplatz nach dem Wechsel zu einem neuen Management (der Agentur Team8 von Federer-Manager Tony Godsick) war nichts geblieben, die wenigen guten Ergebnisse aus dem Herbst waren schon wieder längst verblasst – und was stattdessen zu besichtigen war, das war ein an sich und der Tenniswelt verzweifelnder Mann. Einer, der sich in denkwürdigen Monologen immer wieder selbst fragte, „was mit mir los ist“. Oder feststellte: „Ich kriege es nicht mehr hin.“ Womit vor allem sein labiler, erschreckend schwacher Aufschlag gemeint war. Mehr als zwei Dutzend Doppelfehler summierten sich schon nach drei Pflichtspielen auf.

Bei den Australian Open, die am Montag beginnen, ist Zverev eigentlich und noch immer Deutschlands größte Hoffnung auf durchschlagende Erfolge. Sein ATP Cup-Weggefährte Jan-Lennard Struff, im letzten Jahr der Spieler, der am meisten aus seinen Möglichkeiten machte, hat ein Katastrophenlos erwischt, in Runde eins trifft er auf Novak Djokovic, den Nummer eins-Mann. Für Dominik Koepfer und Philipp Kohlschreiber, den Veteranen, geht es eher darum, sich gut zu verkaufen und vielleicht mit Glück und Geschick in die zweite Woche vorzuackern. Bei den Frauen weiß man nicht genau, welche Hoffnungen man auf die verletzt angeschlagene Angelique Kerber und auf Julia Görges richten kann, hinter dem jahrelangen Duo an der Spitze tut sich wenig bis gar nichts.

Zverev-Magie schwindet zwischen Streitigkeiten

Zverev wäre die Figur, auf die sich zurecht Erwartungen projezieren würden, in diesem Jahr der Entscheidung. 2018 zeigte er, nicht nur bei der WM in London, wozu er in der Lage sein kann. Dass er sogar mit den ganz Großen der Branche wieder und wieder mithalten kann. Aber Zverev spielte damals oft wesentlich aggressiver, auch weil Lendl ihm das einflüsterte.

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Im Chaos der Streitigkeiten mit seinem alten Manager Patricio Apey und der Fehde zwischen Daddy Alexander und Lendl erschien es indessen bald so, als habe ein böser Zauber die Magie Zverevs ausgelöscht. Der Hamburger bekam schonunglos eine Lektion präsentiert, die schon andere vor ihm lernen mussten: Tennis ist mehr als nur Talent, mehr als die gute Vorhand, der perfekte Schmetterball. Um an die Spitze zu kommen, braucht es mehr: Das richtige Team an seiner Seite, die immer wieder neuen, zielführenden Entscheidungen. Die Unbarmherzigkeit und Konsequenz, sich auch von jenen zu trennen, die einmal eine wichtige Rolle gespielt haben. Die eigene psychische Stabilität. Auch die Qualität, den Körper mit Hilfe von Zuarbeitern und Ärzten optimal in Schwung zu halten. Zverevs deutsche Vorgänger scheiterten irgendwann an diesem komplexen Aufgabenpaket. Nicolas Kiefer. Und auch Tommy Haas, der sich gerade mit Kritik an Zverev in die Öffentlichkeit begab.

Zverev hinterlässt bisher deprimierenden Eindruck

Nach den ersten Monaten mit neuer geschäftlicher Assistenz, mit Leuten, die auch Karriereberater Zverevs sein müssten, fragt man sich indes: Wo ist der Masterplan? Was wurde als Schwachstelle 2019 erkannt, was sollte verbessert und reformiert werden? Stimmt das sportliche Begleitteam?

Doch der Zverev, der in den ersten Januartagen 2020 in Brisbane auftrat, hinterließ einen eher deprimierenden Eindruck, nämlich den, dass man sich nicht viele Gedanken ums Große und Ganze gemacht hatte. Und dass man eher geglaubt hatte, es werde schon alles wieder gut, einfach so, auch gegen die Konkurrenz, die längst an ihm vorbeigezogen war. Neues Jahr, neues Glück eben.

Auf der Suche nach dem Lichtschalter

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Aber natürlich konnte Zverev auch nicht abschütteln, wozu er unter sanftem Druck seine Einwilligung gegeben hatte: Die Teilnahme an mehreren Schaukämpfen in Südamerika nach der regulären Saison 2019 gemeinsam mit Roger Federer – und die daraus resultierende Mini-Saisonpause, eine nervliche Angespanntheit, die Erkenntnis, schlicht nicht genügend getan zu haben fürs 2020.

War und ist das überhaupt nachzuholen, noch vor Melbourne. Und so schnell danach? Beckers Analyse, Zverev sei in einem dunklen Raum gefangen und müsse nun den Lichtschalter finden, sprach da eine eher skeptische Sprache. Ganz zu schweigen von dem Nachsatz des Tennis-Kanzlers, nämlich der Anmerkung, Zverev müsse das auch wollen, das Licht finden, die Erleuchtung.