Trondheim. Donnerstag starten die deutschen Handballer gegen die Niederlande in die Europameisterschaft. Der Bundestrainer ist als Tüftler gefragt.

Es herrschte kein Gute-Laune-Wetter in Norwegen, als für Christian Prokop die Handball-EM begann. Regen klatschte am Mittwoch gegen die Scheiben des Teamhotels in Trondheim, draußen fegte ein kalter Wind über die aufgetürmten Schneemassen am Straßenrand und die mit Eiskrusten überzogenen Bürgersteige. Um 15 Uhr war es draußen bereits stockdunkel. Der Bundestrainer zeigte sich trotzdem bestens gelaunt, als er noch einmal vor die Medien trat. Eine letzte Pflichtübung für den 41-Jährigen, bevor sein Team heute gegen die Niederlande ins Turnier startet (18.15 Uhr/ZDF). „Wir haben die knappe Vorbereitungszeit genutzt und ein gutes Gefühl“, sagte Prokop. „Endlich geht es los.“

Prokop, der Reisende

Prokop wirkte fokussiert, als er diese Wort sprach, verordnete sich aber selbst auch einen Schuss Gelassenheit. Eine innere Ruhe, die er vor kurzer Zeit auch von einem neunjährigen Mädchen erlernte. Vor eineinhalb Monaten verbrachte er einige Tage in Vietnam und besuchte dort Chi Ra, die mit ihrer Familie in einem Bergdorf lebt. Der Deutsche Handballbund (DHB) unterstützt die Kinderhilfsorganisation Plan International und hat die Patenschaft für das Mädchen übernommen. Von Chi Ra lernte Prokop etwas Besonderes: wie man mit Ess-Stäbchen selbst das kleinste Reiskörnchen greifen kann.

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Prokop, der Tüftler

Es ist eine andere Welt als noch vor eineinhalb Monaten, doch sieht sich Christian Prokop kurz vor Turnierbeginn in Trondheim in einer ähnlichen Situation wie an jenem Tag, als er mit Chi Ra beim Mittagessen saß: Er muss die vor ihm liegende Aufgabe meistern, Fingerfertigkeit und Feingefühl beweisen. Zahlreiche verletzungsbedingte Absagen von Rückraumspielern haben seine Aufgabe nicht leichter gemacht. Prokop muss aus den Gegebenheiten das Beste machen, er muss improvisieren. Um zu bestehen, muss er selbst das kleinste Reiskörnchen greifen.

Prokop, der Problemlöser

Die Voraussetzungen waren vielversprechend: Als einziger der 32 Teilnehmer an der EM-Qualifikation gewann das deutsche Team alle sechs Spiele, der Rückenwind, den die Heim-WM vor einem Jahr mit dem vierten Platz gegeben hatte, war auch Monate später noch zu spüren. Team und Trainer hatten sich gefunden, die Stimmung war prächtig. Dann häuften sich die Absagen. Niclas Pieczkowski wurde an der Schulter operiert, die Kreuzbänder rissen bei Tim Suton und Simon Ernst. Der routinierte Martin Strobel, bei der WM der Lenker auf dem Feld und in der Hauptrunde schwer am Knie verletzt, fühlt sich der Herausforderung einer EM noch nicht gewachsen. Der kreative Fabian Wiede unterzog sich Ende Dezember einer Schulter-OP. Vakuum in der Mitte des Rückraums, kreativer Notstand.

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Als Spielmacher bietet Prokop nun Paul Drux, Marian Michalczik und Philipp Weber auf, die in ihren Bundesligaklubs meist auf der linken Seite statt im Zentrum des Rückraums zu finden sind. Es sind Notlösungen. Allesamt sind sie keine genialen Dirigenten, die ihre Mitspieler in Position bringen, sie sind eher beherzte Arbeiter mit Zug zum Tor. Kurzum: Es sind nicht Deutschlands beste Spieler, die der Bundestrainer als Spielmacher aufbieten kann. Aber die besten, die ihm zur Verfügung stehen. „Wir legen den Fokus nicht auf eine Position. Es ist das Zusammenspiel aller drei Spieler im Rückraum, das uns unberechenbar machen soll“, sagte Prokop.

Prokop, der Hoffnungsträger

Immerhin: Auf den restlichen Positionen sieht es anders aus. In Andreas Wolff und Johannes Bitter hat Deutschland eines der stärksten Torhüter-Duos, Patrick Wiencek, Hen-drik Pekeler und Jannik Kohlbacher sind am Kreis eine Wucht. Auf den Außenpositionen rennen und springen in Uwe Gensheimer und Tobias Reichmann zwei Ausnahmekönner. Und der während der WM noch verletzte Julius Kühn dürfte mit seiner Wurfgewalt aus dem linken Rückraum für Überraschungsmomente sorgen. Es sind keine perfekten, aber alles andere als schlechte Bedingungen, mit denen Prokop arbeiten muss.

Unter ihm soll nun der nächste Schritt folgen. Ist es eine Medaille, wie sie DHB-Präsident Andreas Michelmann fordert? Wäre schon der Halbfinaleinzug ein Erfolg, wie es das Gros der Spieler und auch Prokop selbst formuliert? Am Ende werden die Teamzusammensetzung, Tagesform und Energiereserven entscheiden. Schon ein Reiskorn kann die Waage kippen…