Innsbruck. Sven Hannawald hat bei der Vierschanzentournee Höhenflüge und Abstürze erlebt. Im Interview spricht er nicht nur über die aktuellen Favoriten.

Länderwechsel, zweite Halbzeit und jede Menge Nervenkitzel: Mit dem Springen in Innsbruck am Samstag (14 Uhr/ZDF und Eurosport) richten ab sofort die Österreicher die Vierschanzentournee aus. Dem Co-Gastgeber ist es vorbehalten, den ruhmreichen Sieger zu küren. "Es ist absolut spannend", sagt Sven Hannawald vor dem Springen. "Man hatte ja schon vorher die Ahnung, dass diesmal alles knapper ist." Der 45 Jahre alte Hinterzartener, der heute mit Frau und Kindern in der Nähe von München wohnt und als Experte für Eurosport arbeitet, hat in diesem Sport alle Höhenflüge (2002 Olympiasieg und Grand Slam bei der Tournee), aber auch Abstürze (Burn-out) erlebt. Vor dem Flugspektakel am Bergisel spricht Hannawald über die Unterschiede zwischen Karl Geiger und Ryoyu Kobayashi, über den perfekten Sprung und warum er wirklich gerne als vorerst letzter deutscher Gesamtsieger in Bischofshofen abgelöst werden möchte.

Herr Hannawald, vor zwei Jahren haben Sie gehofft, der Einzige zu bleiben, der alle vier Springen gewinnt. Diesmal wünschen Sie es Karl Geiger vermutlich, dass er Sie in einer anderen Rolle ablöst, oder?

Sven Hannawald: Auf jeden Fall. Ich weiß ja auch, wie toll es ist, den Gesamtsieg vor Augen zu haben. Dazu kommt noch, dass die Tournee für einen Deutschen oder Österreicher noch einen höheren Stellenwert hat als für andere. Aber auch so starten die meisten Skispringer ihre Karriere, weil sie die Vierschanzentournee kennen, weil diese so eine unglaubliche Tradition hat.

Vor 18 Jahren haben Sie die Tournee als letzter Deutscher gewonnen. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Hannawald: Ein Sieg bei der Tournee bleibt sogar vielen Favoriten verwehrt. Wenn man dann die Möglichkeit hat, seinen Namen in die lange Liste von Koryphäen einzutragen, ist das in meinen Augen das Größte, was es im Skispringen gibt - vielleicht auch mehr als ein Olympiasieg. Umso stolzer bin ich. Und: Karl ist gerade auf einem guten Weg, das auch zu schaffen.

Sven Hannawald (l.) steht in Innsbruck neben Markus Eisenbichler.
Sven Hannawald (l.) steht in Innsbruck neben Markus Eisenbichler. © dpa

Kann Geiger wirklich die Gesamtwertung gewinnen?

Hannawald: Er kann seinen Namen in diese Liste eintragen – auch wenn es am Ende abhängig ist von Kleinigkeiten, die nicht unbedingt an Karl hängen. Zumindest bei einem der beiden folgenden Springen sollte es aber doch so sein, dass er gewinnt. Ich habe die Hoffnung, dass er als Stabilster von allen auch am Ende derjenige sein darf, der ganz oben steht. Aber das ist noch ein langer Weg, bis dahin sind dann auch noch schnell Schlagzeilen geschrieben, die einen vom eigenen Weg abbringen können. Das muss er aber durchstehen und bei sich bleiben – da mache ich mir aber keine Sorgen.

Alle Springer eifern Kobayashi nach. Wessen Sprungstil wird am Ende erfolgreich sein?

Hannawald: Ryoyus Stil haben nun alle kopiert. Er hat jetzt das Problem, dass er immer noch einen draufsetzen möchte – das dann aber in die Hose geht. Er merkt, dass die Jungs dran sind. Karl springt mit viel mehr Power am Tisch ab. Er ist ein groß gewachsener Springer, dadurch hat er viel mehr Körperfläche, die er positiv nutzen kann. Sobald er aber im Wind steht, ist das Mehr umso kontraproduktiver. Ryoyu ist der Pfeil und Karl eher der Drachensegler.

Geiger ist sehr bodenständig – spielt ein ruhiger Charakter Skispringern eher in die Karten?

Hannawald: Man kann ja auch überpacen… Er trägt genau das in sich, was bei einer Tournee wichtig ist: Als Heißsporn lässt man sich von einer negativen Situation eher beeinflussen, das bringt einen vom Weg weg. Karl ist in dieser Saison, in der es bereits sämtliche Bedingungen gab, wegen denen dann auch der Kopf zu arbeiten beginnt, der Stabilste. Er hat die Fähigkeit, sich auf seinen Sport zu konzentrieren, egal was um ihn herum passiert.

Es ist erstaunlich, dass man so lange auf ersten Grad Slam warten musste – und dass es in Person von Kamil Stoch und Ryoyu Kobayashi in den vergangenen beiden Jahren dann gleich zwei Springer hintereinander wiederholt haben.

Hannawald: Die Gedanken an vier Siege haben bis zu dem Zeitpunkt, als sie noch niemand geschafft hatte, allen aussichtsreichen Springern spätestens in Innsbruck einen auf den Kopf gegeben. Gefühlt wurden einem dort dann noch mal 100 Kilo in den Erwartungsrucksack gelegt, der ohnehin schon schwer genug war. Dadurch haben viele den Weg verloren. Ich bin froh und stolz, dass ich der Erste sein durfte. Dadurch war danach für die anderen Springer der psychologische Druck weg, das Thema Vierfachsieger nicht mehr so interessant.

Vermutlich würden Stoch und Kobayashi Ihnen jetzt widersprechen.

Hannawald: Gut, das stimmt (lacht, d.Red.). Bei Kamil hat 2018 auf jeden Fall im Hinterkopf gearbeitet, dass es nun schon 16 Jahre keinen Grand-Slam-Sieger mehr gegeben hatte. Das war der Antrieb. Er war aber auch in einer Phase, wo ihm viele Dinge in die Karten gespielt haben. Leider aus deutscher Sicht auch der Sturz von Richard Freitag in Innsbruck, durch den der Hauptkonkurrent aufgeben musste. Damit war der Weg für Kamil frei – natürlich hat er es sich absolut verdient, dem Klub beizutreten. Ryoyu sind im Jahr darauf alle anderen dermaßen hinterher gehinkt, dass er einen so immensen Vorsprung hatte und es letztlich schon keine große Aufgabe mehr war. Somit sind wir jetzt drei.

Ihr Rekord galt so lange Zeit als uneinholbar, sogar als unverbesserlich. Hatten Sie nach dem Springen in Oberstdorf die Befürchtung, Kobayashi hätte den zweiten Grand Slam in Serie packen können?

Hannawald: Auch wenn Ryoyu es in diesem Jahr nicht mehr schaffen kann: Man sieht, dass die großen Ziele wieder anfangen. Ist er vielleicht derjenige, der sechs Siege in Folge erreicht oder auch die Tournee zweimal mit vier Tagessiegen gewinnen kann? Natürlich kann das passieren. Ich wäre der Letzte, der sagt: Das darfst du nicht. Aber ich glaube schon, dass da eine höhere Macht am Werke ist und der Grand Slam jetzt nicht zum Alltagserlebnis wird.

Begeistert und begeisternd: Karl Geiger.
Begeistert und begeisternd: Karl Geiger.

Inwiefern?

Hannawald: Naja, dann könnte man ja alle Springer, die es auf drei Siege gebracht haben und nah dran waren, brandmarken: Der Kobayashi hat’s sogar doppelt hingebracht, ich weiß gar nicht, was ihr damals falsch gemacht habt. Aber in größeren Abständen wird es sicher noch diese besonderen Gesamtsieger geben. Momentan hebt das erlaubte Material viele Springer auf ein gleiches Level, auf dem sie dann auch gewinnen können. Weil man mit vielleicht weniger Talent viel ausgleichen kann, gibt es auch mehrere Sieger. Wenn damals Jens Weißflog oder Matti Nykänen gewannen, dann waren sie dem Feld voraus. Der Vorteil momentan ist: Im Skispringen kann gerade niemand voraussagen, wer gewinnt.

Ist es nicht schade, wenn das Material mehr entscheidet als das Können jedes Einzelnen?

Hannawald: Das Thema ging Anfang des Jahrtausends so richtig los. Auch in meinem guten Jahr 2000 haben wir am Ski herumexperimentiert, was das Regelwerk hergab. Wir haben eine Lücke ausgenutzt. Die Österreicher haben dann durch Anzüge mit einem enorm tieferen Schritt Wege gefunden, die nicht verboten waren. Insofern ist es wohl in jedem Sport eine Materialfrage. Denn wie man einen Körper als Hochleistungsathlet trainieren muss, weiß auch jeder.

Material ist das eine, der Kopf das andere. Welche Rolle spielt Stefan Horngacher für Karl Geiger und die deutschen Springer? Die müssen sich nach elf Jahren unter Werner Schuster als Bundestrainer ja sicherlich auf einiges Neues einstellen.

Hannawald: An Karl Geiger lässt sich die Philosophie von Stefan Horngacher schön erklären: Es geht nicht darum, einen neuen Sprungstil zu kreieren, sondern ihn mit geänderten Kleinigkeiten auf ein breiteres Niveau zu heben, auf dem du nicht mehr abhängig bist. Unter Schuster hat es in der Spitze funktioniert: Man hatte immer in Einzelspringen einen Severin Freund, Andreas Wellinger, Markus Eisenbichler oder Karl Geiger. Einmal war der eine Weltmeister und dann der andere Olympiasieger. Stefans Philosophie ist die, dass man über den ganzen Weltcup hinweg stabil ist.

Auch wenn das auf Kosten von Titeln passiert?

Hannawald: Natürlich werden einige sagen: Na, aber damals haben wir Springen gewonnen. Die Zeit wird kommen, in denen Karl ganz oben auf dem Siegerpodest landet. Er hat seine Basis weiter auf ein höheres Niveau gehoben. Wenn er jetzt oben sitzt und weiß, Kobayashi ist unheimlich weit gesprungen, kann er auch Attacke geben. Das hätte früher nicht funktioniert. Dann muss man über Grenzen gehen. Aber Karl ist auf dem Weg, ein Topspringer zu werden.

Haben Sie je den perfekten Sprung gesehen?

Hannawald: Ich habe sie letztes Jahr von Ryoyu bewundern dürfen, und deswegen bin ich auch ein kleiner Fan von ihm. Es war ein Traum, ihm zuschauen zu können. So flüßig und feinfühlig – und am Ende trotzdem der eiskalte Killer. Das war auch meine Philosophie. Er verkörpert Dinge, mit denen ich über Jahrzehnte gelebt habe.

Da spricht doch gerade eigentlich ein Trainer aus Ihnen. War das für Sie nie eine passende Aussicht?

Hannawald: Das ist für mich der einzige Beruf, bei dem ich die Gefahr sehe, wieder über meine körperlichen Grenzen hinauszugehen. Deshalb kommt das für mich nicht infrage. Ich habe damals alles rigoros für den Erfolg getan. Wenn ich jetzt Trainer wäre und alles für meine Jungs tun würde, glaube ich nicht, wieder den nötigen Ausgleich finden zu können. Wenn sie schlafen würden, käme ich ins Grübeln, was wir noch ändern können. Dann wäre mir der Erfolg wieder wichtiger als der Körper. Ich liebe es, als Kommentator mit dabei zu sein, auf diese Weise in meiner alten Welt weiter leben zu dürfen – aber eben nicht mit der großen Verantwortung.