Garmisch-Partenkirchen. Ryoyu Kobayashi ist der große Favorit bei der Vierschanzentournee, ein guter Redner ist er jedoch nicht. Ein Pastor ist seine deutsche Stimme.

Zwei richtig gute Sätze bringt Ryoyu Kobayashi inzwischen auf jeder Schanze hinunter. Nur über die Lippen wollen sie ihm irgendwie nicht kommen.

Das ist insofern bedauerlich, als dass es zu einem Missverständnis in der Wahrnehmung des jungen, aber doch recht wortkargen Japaners führt. Kobayashi? Das ist doch der arrogante und unverschämt erfolgreiche Überflieger der Skisprung-Gilde, ein unnahbarer Athlet. Keine seltene Reaktion. Man muss sich das mal vorstellen: Beim Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf haben die Piefkes die Ösis – bei sportlichen Vergleichen zwei sich in wohliger Abneigung gegenüber stehende Nachbarn – mehr angefeuert als Kobayashi. In Garmisch-Partenkirchen waren bei seinen Sprüngen sogar vereinzelt Pfiffe vernehmbar beziehungsweise die Freude nach der Landung umso größer, als klar war, dass er beim deutsch-österreichischen Schanzenvergnügen nicht auch noch ein sechstes Springen in Serie gewonnen hatte.

Ryoyu Kobayashi kulturell bedingt ein Rätsel

Es ist nicht so, dass Ryoyu Kobayashi die Fragensteller nicht versteht – viel mehr ist der 23-Jährige den Skisprung-Fans kulturell bedingt ein Rätsel. Markus Neitzel kann sie auflösen. Der 60-Jährige, gebürtig aus dem Schwarzwald und schon länger im hessischen Hüttenberg beheimatet, hat von 1987 bis 2000 mit seiner Frau Cornelia in Japan gelebt. Der Pastor sollte in der Nähe von Sapporo eine evangelische Gemeinde aufbauen, daher kennt er die asiatischen Gepflogenheiten, die selbst kultivierten Mitteleuropäern noch manchmal recht befremdlich erscheinen.

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Wenn Neitzel bei der Tournee also für den Gesamtführenden Kobayashi aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt, löst das bei Zuhörern häufig ein Stirnrunzeln aus. Der Grand-Slam-Sieger des Vorjahres lächelt zwar höflich, antwortet aber häufig kurz und nichtssagend. „Ich bin kein guter Redner“, erklärt er. Über sich selbst und seinen Sprungstil, den alle Konkurrenten nachzuahmen versuchen, gibt Kobayashi nicht viel preis. „Das ist ganz normale japanische Mentalität“, sagt Neitzel, inzwischen so etwas wie deutsche Stimme Kobayashis. „In Japan ist es wichtig, das Gesicht zu wahren. Es gehört sich nicht, sich selbst zu loben. Er sagt also weniger über seine Sprünge, als dass er es von anderen gelernt und es sich abgeguckt hat.“

Ob abgeguckt oder selbst kreierter Stil – Kobayashi ist nicht mehr so dominant wie in der letzten Saison, als der Emporkömmling alle verblüffte. Aber immer noch so gut, vor dem dritten Springen in Innsbruck am Samstag (14 Uhr/ZDF) 6,3 Punkte Vorsprung, umgerechnet etwa dreieinhalb Meter Weite, auf den Oberstdorfer Karl Geiger zu haben. Kein anderer Springer hat nach dem Abheben vom Bakken im Flug so schnell die Skispitzen auf Ohrenhöhe, dass es höher, schneller und eben auch weiter den Hang hintergeht. Weil er darin besser als alle Konkurrenten ist, darf Kobayashi aber nicht als abweisend oder überheblich eingeschätzt werden. Zumal er auch bessere Leistungen anderer anerkennt. „Er ist ein extrem netter Kerl, ein sehr fairer Sportsmann“, sagt Geiger, der beim Neujahrsspringen vor dem Japaner landete, „wenn der andere besser ist, gratuliert man sich.“

Neue Generation japanischer Skispringer

Während die Tournee erstmals seit 1989 ohne die Ikone Noriaki Kasai auskommen muss, steht Kobayashi für eine neue Generation japanischer Skispringer. Durch sein imposantes Vorjahr, in dem er 15 Springen und folgerichtig den Gesamtweltcup gewann, „gab es natürlich einen Hype zu Hause“, erzählt er. „Trotzdem ist er ein ganz normaler junger Mann, der sich gut anzieht und schnelle Autos mag“, erklärt Neitzel.

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Dabei darf Kobayashi in seinem schwäbischen Sportwagen auf japanischen Autobahnen nur 110 km/h fahren. Aber letzten Endes verkörpert er auch nur eine moderne Entwicklung des traditionsreichen Japans. Wie seine Teamkollegen. Neitzel: „Naoki Nakamura redet viel und stellt lauter Bilder auf Instagram online. Yukiya Sato legt Wert auf sein Äußeres, kämmt sich die Haare so, wie man es von den Manga-Figuren aus den japanischen Animefilmen kennt. Und Ryoyu geht an Weihnachten in Paris shoppen und zieht mal eine Sonnenbrille auf, wenn er keine bräuchte – das ist halt sein Stil.“

Ryoyu Kobayashi ist kein Gefühleisklotz

Sein Lehrmeister Kasai („Ich habe ihm sehr viel zu verdanken“) achtet jedoch darauf, dass Kobayashi mit Ausnahme bei den beeindruckenden Flugshows auf dem Boden bleibt. Beide trainieren in Sapporo beim Tsuchiya Home Ski Team. Das ist so etwas wie die Betriebssportgruppe eines Immobilienunternehmens, in Japan gibt es nicht das deutsche Vereins- und Verbandssystem. Dass Kobayashi kein Gefühleisklotz ist, zeigt er ja nach besonders weiten Sprüngen, wenn er seine Freude herausbrüllt und im Auslauf schon mal mit den Objektiven der Kameramänner schäkert. Einem Japaner geziemt das eigentlich nicht. Kasai maßregelt den jungen Kollegen dann schon mal. Neitzel: „Denn der würde sich nie so freuen und so aus sich herausgehen.“

Gut möglich, dass Ryoyu Kobayashi am Montag erneut die Vierschanzentournee gewinnt, eines Tages vielleicht sogar den Rekord des Österreichers Gregor Schlierenzauer von 53 Weltcupsiegen bricht. Man muss sich dann aber nicht wundern, wenn der 23-Jährige bis dahin immer noch nicht das Geheimnis seines Erfolges verraten hat. „Ich habe keine Idee“, antwortete Kobayashi dieser Tage auf die Frage. Manchmal reicht es halt eben nicht mal zu einem guten Satz.