Doha. Christian Coleman tritt das Erbe von Usain Bolt an. Doch nur wenige schauten dem 100-Meter-Sieger zu - einem Weltmeister im Zwielicht.

Der 100-Meter-Lauf der Männer ist entschieden. Im Pressekonferenzraum erleben die Journalisten in der Mitte des Podiums einen Jamaikaner, der über seinen WM-Sieg spricht. Er wirkt smart und cool. Es scheint, als wäre die Zeit zurückgedreht worden. Doch die Reihen des kleinen Raums sind nicht wie gewohnt zum Bersten gefüllt. Denn dieser Jamaikaner, er heißt nicht Usain Bolt. Sein Name ist Tajay Gayle. Er ist 23 Jahre alt und neuer Weltmeister im Weitsprung.

Coleman könnte der neue Superstar der Leichtathletik werden

Erst als er den Raum verlässt, wird er abgelöst vom Mann des Abends, auf den alle warten. Auf dem Podium der 100-Meter-Läufer ist in diesem Jahr aber kein Jamaikaner zu finden – zuletzt gab es das 2003. Bei der Weltmeisterschaft Nummer eins nach dem Rücktritt des Superstars Bolt stehen in Katars Hauptstadt Doha zwei Amerikaner und ein Kanadier ganz oben. Der neue schnellste Mann der Welt heißt Christian Coleman. Der US-Amerikaner ist 23 Jahre alt, sehr schnell und sehr selbstbewusst. Er könnte das Erbe des großen Usain Bolt als neuer Superstar der Leichtathletik antreten. Doch Christian Coleman ist ein Weltmeister im Zwielicht.

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Mit der Entschlossenheit eines Rammbocks hatte sich Coleman am Samstagabend im Khalifa-Stadion aus dem Startblock katapultiert. Er hatte sich über die Ziellinie gebrüllt und seinen Arbeitstag nach beeindruckenden 9,76 Sekunden beendet. Seinen Landsmann, den wegen früherer Dopingsperren umstrittenen Titelverteidiger Justin Gatlin (9,89), sowie den Kanadier Andre de Grasse (9,90), der sich beim TV Wattenscheid auf die WM vorbereitet und von Gold geträumt hatte, hängte er klar ab. Die Siegerzeit war die zweitschnellste nach dem Weltrekordlauf von Usain Bolt 2009 in Berlin (9,58), die je in einem WM-Finale gelaufen wurde.

Coleman schnappte sich eine USA-Fahne und schrie seine Freude den Rängen entgegen. Allerdings saß da kaum noch einer. Im Stadion waren nur noch so wenige Menschen, man konnte sogar das leise Surren der automatisch auslösenden Kameras hören. Manch einer stänkerte, diese Ehrenrunde sei genau die Ehrenrunde gewesen, die dieser Weltmeister verdient habe.

Coleman hatte drei Doping-Tests innerhalb eines Jahres verpasst

Christian Coleman, geboren in Georgia, Atlanta, ist ein großer Sprinter. Er hatte die Saison dominiert. Wenn man dieses Muskelpaket so sieht, fragt man sich, warum das Sprichwort „vor Kraft kaum laufen“ heißt – so schnell wie Coleman ist. Schon 2017 bei Bolts letztem 100-Meter-Rennen in London gewann er WM-Silber vor Bolt und hinter Gatlin. Gatlin verglich Coleman wegen dessen starken ersten 60 Metern mit dem zweimaligen Olympiasieger und früheren Weltrekordhalter Maurice Greene aus den USA.

Nach seinem Sieg sprach Coleman nun von Dankbarkeit, dass er nichts für selbstverständlich nehme. Und: „Meine Eltern sind meine größte Inspiration. Sie haben so viel für mich geopfert. Jedes Mal, wenn ich laufe, laufen sie mit mir.“ Solche Sätze können sympathisch machen, ein Star-Profil schärfen. Wenn da nicht die anderen Schlagzeilen wären.

In die geriet Coleman, weil er drei Doping-Tests innerhalb eines Jahres verpasst hatte. Eigentlich hätte er deshalb für die WM gesperrt werden müssen. Doch die nationale Anti-Doping-Agentur Usada hatte einen juristischen Winkelzug gefunden, um den ersten Test zurückdatieren zu können. Coleman durfte starten, doch das Unbehagen blieb.

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Seine wilde, fast grimmige Entschlossenheit, mit der er als einziger in jedem Lauf bei dieser WM unter zehn Sekunden geblieben war, schien die umgewandelte Energie aus dem Skandal zu sein. Doch so leicht kam er nicht davon.

Bei der Pressekonferenz tief in der Nacht sah sich der 23-Jährige plötzlich einem Kreuzverhör ausgesetzt. Schon vorher hatte er gesagt: „Ich nehme nichts. Ich arbeite hart an meinem gottgegebenen Talent und meinen Fähigkeiten.“ Auch jetzt beteuerte er mehrmals: „Ich habe nichts falsch gemacht.“ Dann aber verstrickte er sich in Widersprüche, erklärte er, er sei nicht perfekt, habe Angaben zu seinem Aufenthaltsort vergessen – und er erhob rassistische Anschuldigungen: „Ich bin nur ein junger schwarzer Mann, der seinen Traum lebt. Es ist enttäuschend, dass jemand Informationen preisgibt, um meinen Ruf zu beschmutzen“, sagte er. „Einige Leute interessieren sich nicht für die Wahrheit, sie erzählen nur Geschichten“, sagte Coleman und sprach von „Hass“ auf einen „schwarzen Jungen“.

Michael Johnson hatte Coleman vor der WM kritisiert

Auch Michael Johnson bekam sein Fett weg. Der ehemalige US-Sprintstar (52) hatte vor der WM kritisiert, Coleman sei seiner „Verantwortung“ als potenzieller Superstar der Leichtathletik nicht nachgekommen. Colemans Reaktion glich der eines Boxers beim Wortgefecht vor dem Kampf: „Michael Johnson zahlt nicht meine Rechnungen und unterschreibt nicht meine Schecks, daher ist es mir egal, was er zu sagen hat.“

Was und wie er es sagte, das wirkte wie eine Mischung aus Arroganz und Hilflosigkeit. Schnell erklärte Coleman noch, dass er nur seinen Job machen, „den Menschen die Schönheit zeigen“ wolle, die er in seinem Sport sehe.

Nur ist das schwierig, wenn man so nah an der hässlichen Seite dieser ohnehin belasteten Disziplin steht.