Doha. Simone Biles hat bei der Turn-WM in Doha Sportgeschichte geschrieben. Nach ihrem Comeback knüpft dominiert sie auf ihre besondere Art.
Wie sehr Simone Biles die internationale Kunstturnszene dominiert, lässt sich am besten mit Blick auf ihre Fehler beschreiben. Im Mehrkampf der Weltmeisterschaften von Doha saß die Amerikanerin nach ihrem beeindruckend schweren Sprung, einem Jurtschenko mit halber Drehung in der ersten Flugphase und einem Salto mit Doppelschraube in der zweiten, mit dem sie sich erst in der Qualifikation ins Erfinderbuch eingetragen hatte, auf dem Hosenboden. Später stürzte sie vom Schwebebalken und sprang am Boden einmal in höherem Bogen nach einer akrobatischen Reihe rückwärts aus der Fläche. Jede andere wäre mit so vielen Patzern am Ende irgendwo weit hinten gelandet, die Favoritin derweil ganz vorne. Dabei hatte sie bei ihrem vierten Vierkampftitel, mit dem sie einen neuen Rekord in der Bewegungslandschaft aufstellte, noch immer 1,7 Punkte Vorsprung auf die hinter ihr rangierende Japanerin Mai Murakami.
Die 21-Jährige aus Texas ist ein Phänomen. Eines, das sich selbst von Fachleuten schwer erklären lässt. Klar, da ist ihre Sprungkraft, die es ihr erlaubt, in der Luft noch etwas weiter um ihre Achsen zu drehen als andere Gerätekünstlerinnen. Und die ihr genügend Zeit gibt, danach auch noch eine saubere Landung vorzubereiten. Doch die Leichtigkeit, mit der sie oft selbst die spektakulärsten Herausforderungen absolviert, lässt sich selbst in härteten Übungseinheiten von fleißigsten Sportlerinnen schwer antrainieren.
Größte Last blieb lange im Geheimen
In Katar allerdings lief längst nicht alles wie geplant. Zwar führte die Vorturnerin die US-Girls zu einem souveränen Teamerfolg, bevor sie sich bis zum heutigen letzten Finaltag neben Silber am Stufenbarren, wo die Stuttgarterin Elisabeth Seitz beim Sieg der Belgierin Nina Derwael als Dritte ihre erste WM-Medaille holte, noch Einzel-Gold im Mehrkampf und am Sprung sicherte und damit die Summe ihrer Titel auf insgesamt 13 erhöhte. Doch die ungewohnten Schwächen, die sie dabei präsentierte, nervten sie sicht- und auch hörbar.
Über die Ursachen dafür lässt sich nur spekulieren. Biles, bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio viermal ganz oben auf dem Podest, hatte sich danach für ein Jahr zurückgezogen. Zur Entspannung und körperlichen Regeneration tanzte sie unter anderem durch eine Fernsehshow. Lange war nicht klar, dass sie, die als Kind schon ihrer alkohol- und drogenabhängigen Mutter weggenommen worden war und bei ihrem Großvater aufwuchs, ihre größte Last noch immer im Geheimen mitschleppte. Erst im Januar machte der Turnstar bekannt, eines von etwa 250 Missbrauchsopfern des ehemaligen und mittlerweile zu lebenslanger Haft verurteilten US-Teamarztes Larry Nassar gewesen zu sein.
Weg der Selbstheilung
Eine Psychologin sorgte für etwas Erleichterung. Seitdem verfolgt die seit ihrem letzten Auftritt deutlich erwachsener gewordene junge Dame mit kritischen Kommentaren und Anmerkungen die Aufarbeitung im eigenen Verband und sorgte unter anderem mit dafür, dass zwei Präsidentinnen, die dem wegen Vertuschung ebenfalls im Gefängnis sitzenden Steve Penny im Amt folgten, nach kurzer Zeit wieder zurückgetreten sind. Zudem prangerte sie die Zustände auf der abgelegenen Karolyi-Ranch an, woraufhin das Trainingszentrum der vormaligen US-Teamkoordinatorin Martha Karolyi und ihres Mannes Bela, einst Entdecker der rumänischen Olympiasiegerin Nadia Comaneci, geschlossen wurde.
Biles selbst suchte sich einen weiteren Weg der Selbstheilung. Das, was ihr vom Gefühl her als Betroffene in dem unfassbaren Skandal genommen wurde, könne sie zwar nicht mehr zurück haben, erklärte sie einmal. Doch sie habe es immer noch in der Hand zu zeigen, dass man sie nicht schwächen kann. So setzte sie bei ihrer Rückkehr in den Wettkampf ein Zeichen, als sie bei den nationalen Titelkämpfen in einem Turnanzug in den Farben der sogenannten Survivors triumphierte, der Überlebenden von Missbrauch. Als Retterin des Images einer ganzen Sportart, die sich in ihrer Heimat eigentlich eines riesigen Zuspruchs erfreut, will sie aber nicht gesehen werden. Sie könne, hatte sie damals am Rande der Meisterschaften erklärt, zwar "etwas Fröhlichkeit in meinen Sport zurückbringen, aber nicht die ganze Turnwelt auf meinen Schultern tragen".
Härtester Gegner: die eigenen Fehler
Ihr aktuelles Auftreten spricht für sich. Die Programme, die die unumstrittene Regentin zeigt, sind sogar noch schwerer, sie selbst ist fokussierter geworden. Selbst ein Nierenstein, wegen dem sie in der Nacht vor der Qualifikation im Krankenhaus war, vermochte sie nicht zu bremsen. "Perle von Doha" hat sie den Störfaktor stattdessen humorvoll benannt, in Anlehnung an die gleichnamige künstlich geschaffene Luxusinsel vor der Ostküste des Emirats. Und dann, trotz wenig Schlafs, den Vorkampf mit mehr als 4,5 Punkten Distanz zur mittlerweile entthronten Titelverteidigerin und Teamkollegin Morgan Hurd gewonnen. Biles ist nun mal eine Kämpferin. Ihr härtester Gegner sind derzeit die eigenen Fehler.