Glasgow. Die Hallen sind voll, die Quoten sind gut. Die erste Auflage der European Championships überzeugt Athleten und Politiker gleichermaßen.

Am Sonntagnachmittag, als die Ruderwettbewerbe bei den European Championships beendet waren, ahnte Ralf Holtmeyer, dass sein Verband einen Fehler gemacht haben könnte. „Ich denke, wir haben die Außenwirkung dieses neuen Formats unterschätzt“, sagte der Chefbundestrainer, „wenn wir gewusst hätten, wie groß das Interesse der Öffentlichkeit ist, hätten wir unser bestes Team nominiert.“ Sollte es zu einer Neuauflage des Events kommen, werde man in jedem Fall besser vorbereitet sein, sagte der 62-Jährige noch, ehe er mit seinem Team den Rückflug nach Deutschland antrat.

So wie den Ruderern geht es dieser Tage allen, die in Schottlands größter Stadt (600 000 Einwohner) die Premiere der als „Mini-Olympia“ titulierten Multisport-EM mit 4500 Athleten aus 52 Nationen erleben. Sechs Sportarten – Rudern, Schwimmen, Kunstturnen, Triathlon, Radsport und Golf – hatten ihre kontinentalen Titelkämpfe zusammengelegt, um mehr Aufmerksamkeit für den olympischen Sommersport zu generieren. Seit Montag hat sich Berlin mit der Leichtathletik-EM eingeklinkt, und die Resonanz auf das neue Format ist so gut, dass es schon jetzt als Erfolg verbucht werden darf. Als Florian Wellbrock am Sonntagabend zu Gold über 1500 Meter Freistil schwamm, sahen im ZDF 2,6 Millionen Fans zu, was 15,9 Prozent Marktanteil bedeutete.

Auch die Zuschauer nehmen das neue Format an

„Die Zuschauer haben dieses neue Format sofort angenommen“, sagte ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann. „Die Quoten liegen über den Erwartungen. Teilweise reichen sie schon an die Wintersportwochenenden heran.“ Diese waren ob ihrer zeitlich abgestimmten Taktung Vorbild für das neue Sommerkonzept gewesen. „Wenn so viele Menschen diesen goldenen Moment mit Florian teilen, ist das etwas Besonderes. Es zeigt, dass die Idee greift und alle Sportarten davon profitieren“, sagte Schwimm-Bundestrainer Henning Lambertz.

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Von Andeas Berten und Andreas Morbach

Die deutschen Athleten teilen diese Einschätzung unisono. „Dieses Event ist eine tolle Idee, weil es den Fokus vom Fußball auf den anderen Sport lenkt“, sagte Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer (21/Chemitz), die mit dem Team auch deshalb das Mannschaftsfinale verpasste, weil laut Bundestrainerin Ulla Koch „die Mädels nicht auf das große Interesse der Öffentlichkeit vorbereitet waren“. Tatsächlich profitieren Sportarten wie Bahnradfahren noch mehr als olympische Kernsportarten wie Schwimmen vom gestiegenen Medieninteresse. „Dadurch dass das Fernsehen und die Zeitungen mehr berichten, habe ich in meinem Umfeld extrem gespürt, dass wir deutlich mehr im Fokus stehen. Normalerweise findet eine EM abseits des Fachpublikums kaum Anklang“, sagte Domenic Weinstein (23/Villingen), der am Sonntagabend in der 4000-Meter-Einerverfolgung seinen ersten EM-Titel im Männerbereich gewann.

Glasgow erfüllt die Rolle des perfekten Gastgebers

Glasgow, das den morbiden Charme einer in die Jahre gekommenen Industrie- und Arbeiterstadt versprüht, bemüht sich redlich, ein perfekter Gastgeber zu sein. Überall in der Stadt ist Werbung für das Großereignis zu sehen. Am George Square, dem zentralen Platz in der Innenstadt, werden zum Public Viewing täglich kostenfreie, gut frequentierte Konzerte angeboten. Die Shuttlebusse, die Athleten, deren Teams und die Medienvertreter zu den über die gesamte Metropolregion und bis in die Hauptstadt Edinburgh (Wasserspringen) verteilten Wettkampfstätten bringen, funktionieren reibungslos. Und wenn doch mal etwas hakt, ist gewiss einer der 4000 freiwilligen Helfer zur Stelle, die ausnahmslos freundlich und kompetent ihre Dienste anbieten.

Christoph Holstein schaut mit großem Interesse nach Glasgow. Hamburgs Sportstaatsrat hat festgestellt, „dass die Akzeptanz für überschaubare Sportveranstaltungen deutlich höher ist als für Großereignisse wie Olympische Spiele“. Glasgow musste für sein „Mini-Olympia“ keine neuen Sportstätten bauen, ausufernde Kosten geben dadurch, ganz dem gängigen Klischee des geizigen Schotten entsprechend, keinen Anlass zu Diskussionen.

Kommt in vier Jahren eine Kopie des olympischen Dorfes?

„Wir sind sehr gespannt, wie die Analyse der ersten European Championships ausfällt, und wir werden uns das genau anschauen. Grundsätzlich sind wir sehr interessiert an diesem Konzept, weil wir unser Profil als Ausrichter internationaler Sportevents schärfen wollen“, sagte Holstein, der sich eine nationale Allianz mit Berlin durchaus vorstellen kann. „Wir kennen diese Kooperationen aus anderen Sportarten, machen beispielsweise die Handball-WM der Männer im nächsten Jahr mit Dänemark zusammen. Wenn es Sinn ergibt, werden wir über eine Zusammenarbeit mit Berlin nachdenken“, sagte er.

Einen Verbesserungsvorschlag haben die Athleten in Glasgow auch eingebracht. „Es ist ein bisschen schade, dass man von den anderen Sportarten so wenig mitbekommt. Jeder Verband hat sein eigenes Hotel, wir haben noch nicht einmal viel von der Stadt gesehen, weil unser Hotel per Tunnel mit der Arena verbunden ist“, sagte Kunstturnerin Sarah Voss (18/Köln), die am Boden Vierte wurde. Ein Athletendorf für alle EM-Teilnehmer würde, davon sind alle überzeugt, das Olympiagefühl noch verstärken, außerdem sollten auch Mannschaftssportarten wie Hockey oder Basketball integriert werden. Und so bleibt als Essenz einer gelungenen Premiere die Gewissheit haften, dass nicht nur die Ruderer aus ihren Fehlern Konsequenzen ziehen werden, wenn in vier Jahren die geplante Fortsetzung folgt.