Paris. Ein Waliser, der Chris Froome helfen sollte, gewinnt die die Tour de France. Nicht nur sein Chef zollt Geraint Thomas Respekt

Das Rathaus in Cardiff hatte sich hübsch gemacht für diesen Abend. Als der Waliser Geraint Thomas am Sonntag auf dem Pariser Prachtboulevard Champs-Eliysée vor hunderttausenden Radsport-Fans einbog, strahlte die City Hall wenig später in einem gelben Kleid. Der 32-Jährige geht als erster walisischer Tour-de-France-Gewinner in die Geschichte ein. Ein Held, der eigentlich keiner sein sollte.

Geraint Thomas ist nur scheinbar distanziert

„Das ganze Interesse ist unglaublich. Wir sind eine kleine Nation, es ist toll, ein Teil davon zu sein“, sagte der Waliser am Samstag nach der entscheidenden 20. Etappe in Espelette. Auf dem ersten Blick schien da alles wie immer. Thomas, der im Gelben Trikot vor den wartenden Journalisten sitzt. Thomas, der sein Sky-Cap über seine schwarzen Locken gestülpt hat. Thomas, der die Fragen mit ruhiger Distanziertheit abklappert. Aber bei genauer Betrachtung verdeckte seine Mütze diesmal die leicht geröteten Augen und das Lächeln eines kleinen Jungen, der ganz oben angekommen ist. „Ich bin sprachlos. Ich habe seit meiner Hochzeit nicht mehr geweint.

Vor wenigen Minuten war Thomas‘ Innerstes aufgeknackt wie ein Schalentier. Erst schloss er verdutzt seine Gattin Sara Elen in die Arme. „Ich wusste gar nicht, dass sie kommt“, erzählte er. Dann kullerten in den Armen von Teamchef Dave Brailsford die Tränen. „Das ist unglaublich. Ich bin sprachlos“, stammelte er immer wieder.

Die Tour de France schreibt wieder unglaubliche Geschichten

Es gab vieles, was bei dieser Tour unglaublich war. Wie der Sprinter Peter Sagan trotz eines Sturzes das Grüne Trikot bis nach Paris trug. Mit dem sechsten Gewinn hat der 28-jährige Slowake nun den Rekord von Erik Zabel eingestellt. Oder, wie der US-Amerikaner Lawson Craddock mit gebrochener Schulter die ganze Frankreich-Rundfahrt überstand.

Oder, dass Thomas in Paris oben stand und Chris Froome neben ihm. „Ich muss Froomey einen großen Dank aussprechen. Er hat sich am Ende meinem Sieg verschrieben.“ Genau genommen hatte der Brite keine Wahl. Der viermalige Champion wollte nach dem Double aus Giro und Tour greifen. Aber in den Bergen, als Beobachter auf eine Attacke warteten, hechelte Froome tatsächlich. „In den Alpen war klar, dass Thomas in besserer Form ist“, sagte der 33-Jährige. Er habe bis zuletzt an den Sieg geglaubt. „Im Radsport ist alles möglich.“

Sky dominiert die Tour de France

Was möglich ist, hat der britische Rennstall in den vergangenen sieben Jahren demonstriert. Angetreten, um den ersten britischen Tour-Sieger zu stellen, brachte Sky drei verschiedene und insgesamt sechs Tour-Erfolge hervor. Teamchef Brailsford hat ein untrügliches Gespür für den Erfolg, und weiß ihn zu erreichen: Mit technischen Innovationen und einer gewissen Skrupellosigkeit. Die Erfolgsgeschichte ist gespickt mit Affären, zuletzt die um Froome und das Asthmamittel Salbutamol. Was die Fans davon hielten, demonstrierten sie ebenfalls: Sie pfiffen Froome permanent aus, attackierten ihn sogar in Alpe d’Huez. Doch der Zorn der Fans machte Sky nur stärker: „Du kannst wählen, ob es dich angreift oder dich motiviert. Für mich war es Motivation“, sagte Froome. „Es hat sich angefühlt, als ob wir gegen den Rest der Welt kämpfen.“

Vermutlich bekam Geraint Thomas von all dem nicht viel mit. „Ich lebe in meiner Blase und konzentriere mich auf meine Ziele“, sagte er rückblickend auf die Salbutamol-Affäre. Und die waren denkbar einfach: In den Bergen an Tom Dumoulins Hinterrad kleben und im entscheidenden Moment vorbeiziehen, sein Erfolgsrezept bei dieser Tour. „Er ist der gleiche Typ Fahrer wie ich. Ich wusste, ich musste dranbleiben.“

Geraint Thomas: Vom Edelhelfer zum Toursieger

Vielleicht dachte er als Elfähriger auch, er sei der gleiche Typ wie Jan Ullrich. 1997 verfolgte er die Tour de France im Fernsehen und war „beeindruckt von seinem Kampfgeist“. Thomas musste diesen Biss auf eine ganz andere Weise zeigen. Auf der Bahn wurde er zweimal Olympiasieger, aber auf der Straße war er „nur“ der Helfer von Chris Froome. „Er hat mich in solch vielen Situationen gesehen, ich musste ihm keine Ratschläge mehr geben“, sagt Froome. Wie man mit dem Druck umgeht und wie man kontrollierte Pressekonferenzen gibt.

Geraint Thomas hat gelernt vom „vielleicht besten Fahrer aller Zeiten“, wie er Froome bezeichnet. Seine Leistung bringt ihm auch den Respekt der Konkurrenz ein. „Er ist absolut unglaublich. Er war in der Form seines Lebens“, sagte Dumoulin. Der Sunweb-Kapitän flachste nach seinem Sieg im Einzelzeitfahren, Sky habe das größere Budget, „aber sind sie damit glücklicher?“ Für den Moment kann die Antwort nur Ja lauten. Doch Brailsford muss sich nun Gedanken über die Zukunft machen. Thomas ist schon 32 Jahre alt, andererseits könnte er im nächsten Jahr die Kapitänsrolle übernehmen. Was wird dann aus Froome? „Ich denke gerade nur daran, dass unser zweites Kind auf die Welt kommt“, sagt der Brite. „Das kann jeden Moment so weit sein.“ Alles ist möglich.

Kristoff gewinnt letzte Etappe

Die sportlich bedeutungslose letzte Etappe nach Paris gewann übrigens der Norweger Alexander Kristoff vor dem deutschen John Degenkolb