Kasan. Belgien startete gegen Brasilien furios, musste in den letzten Minuten noch zittern - und steht dank eines 2:1-Siegs im Halbfinale.

Es war kurz vor 23 Uhr Ortszeit, als die Kasan-Arena am Freitagabend endgültig ihren Ehrenplatz in der Fußballgeschichte untermauert hatte. Denn nachdem bereits Deutschland (gegen Südkorea) und Argentinien (gegen Frankreich) in dem extra für die WM neugebauten Stadion ausgeschieden waren, traf es mit Brasilien nun auch noch den absoluten Top-Favoriten des Turniers. Mit 1:2 musste sich der fünfmalige Weltmeister den Roten Teufeln aus Belgien geschlagen geben, die auch lange nach dem letzten Pfiff des Abends ihr Glück noch gar nicht richtig fassen konnten.

"Wir haben keine Minute aufgegeben", freute sich Belgiens Trainer Roberto Martinez. "Die Jungs haben es verdient". Seine Spieler seien "ganz spezielle Leute und alle Belgier sollten stolz auf sie sein". Sein Gegenüber war naturgemäß weniger begeistert: Wir hatten ein tolles Match, mit viel Ballbesitz und guten Chancen", meinte Brasiliens Trainer Tite. "Aber Belgien hat es geschafft, Tore zu schießen. Sie waren effektiver. Courtois hat für mich den Unterschied gemacht." Ob er seinen auslaufenden Vertrag verlängern werde, ließ der 57-Jährige offen: "Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich bin noch zu viel mit dem Spiel beschäftigt."

Ein Spiel, in dem alles anders war als sonst: In der Vergangenheit hatten die Belgier bei Weltmeisterschaften gegen Brasilien nicht allzu viel Grund zum Jubeln – was allerdings vermutlich auch nur an der Tatsache lag, dass es erst ein direktes Aufeinandertreffen gegeben hat. 2002 in Japan war es, als Brasilien dank zweier Treffer durch Rivaldo und Ronaldo (der dicke) mit 2:0 gegen Wilmots und Co gewinnen konnte – und am Ende des Turniers sogar verdienter Weltmeister wurde.

Brasilien startete weltmeisterlich

16 Jahre später wollte Tites Mannschaft in Kasan dann direkt keine Zweifel aufkommen lassen, dass man in Russland ebenso zu Großem bestimmt sei. Neymar (erster Hackentrick nach 326 Sekunden, erstes Mal mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden nach 332 Sekunden) und Co. starteten weltmeisterlich und ließen den zunächst völlig überrumpelt wirkenden Belgiern in der Anfangsphase kaum Luft zum Atmen. Einziger Vorwurf: Weder Thiago Silva (aus drei Metern an den linken Pfosten) noch Paulinho (aus neun Metern) konnten die Anfangs-Offensive durch ein Tor veredeln.

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Nach 13 Minuten trafen die Brasilianer dann aber doch – allerdings ins falsche Tor. Eine Ecke Nacer Chadlis bugsierte Fernandinho mit der Schulter ins eigene Tor. Ausgerechnet Fernandinho muss es an dieser Stelle wohl heißen. Denn der Star von Manchester City durfte nur deshalb von Anfang an spielen, weil Trainer Tite erstmals auf den gelbgesperrten Mittelfeldstabilisator Casemiro verzichten musste.

Belgien dominierte das Mittelfeld

Wie sehr Tites Lieblingsspieler, der es wie kein Zweiter im brasilianischen Team der Künstler versteht, die Balance zwischen bezaubernder Offensive und rustikalen Defensive zu halten, tatsächlich fehlte, wurde aber erst nach Fernandinhos unglücklichem Eigentor deutlich. Denn der 0:1-Schock war den Brasilianern extrem anzumerken – und ohne Staubsauger Casemiro überließen die Südamerikaner den Belgiern fortan bereitwillig das Mittelfeld.

Besonders der frühere Bundesligastar Kevin de Bruyne musste zwischendurch ungläubig die Augen reiben, wie viel Platz die bislang so souverän aufgetretenen Brasilianer dem High-Speed-Fußballer gewährten. Und so dauerte es nur eine gute halbe Stunde, ehe das Überfallkommando der Diables Rouges, der Roten Teufel, erneut Ernst machte – wenn auch in völlig vertauschten Rollen. Denn diesmal war es 90-Kilogramm-Koloss Romelu Lukaku, der leichtfüßig durch das brasilianische Mittelfeld spazierte und den Ball butterweich auf de Bruyne passte. Der frühere Wolfsburger und Bremer zögerte keine Sekunde und schloss teuflisch ins linke untere Eck ab. 0:2 nach 31 Minuten – wer hätte das gedacht?

Wütender Sturmlauf der Brasilianer

Zwar antworteten die fünfmaligen Weltmeister noch vor der Halbzeitpause mit einem wütenden Sturmlauf, der aber weder durch Gabriel Jesus (36.) noch durch Philippe Coutinho (37.) belohnt werden sollte. Am Ende mussten sich die geschockten Brasilianer sogar noch glücklich schätzen, dass de Bruyne (41.) und der frühere Hamburger Vincent Kompany (42.) trotz guter Chancen nicht noch vor dem Halbzeitpfiff für die Vorentscheidung sorgten.

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    Und Neymar? Der hatte seinen ersten Auftritt kurz nach dem Wiederanpfiff, als er in den Strafraum der Belgier dribbelte - und dann das machte, was er bei dieser Weltmeisterschaft am häufigsten machte: schauspielern. Nicht einmal 120 Sekunden später war es dann Jesus, den es im belgischen Strafraum ebenfalls zu Fall brachte. Der entscheidende Unterschied: Diesmal war es ein klares Foul von Kompany. Doch trotz sekundenlanger Rücksprache mit Video-Assistent Daniele Orsato aus Italien entschied sich der serbische Schiedsrichter Milorad Mazic unverständlicherweise gegen einen Strafstoß (55.).

    Renato Augusto verkürzte noch einmal

    Professor Tite probierte nun alles, brachte nach dem früheren Hoffenheimer Roberto Firmino auch noch den früheren Bayern Douglas Costa, um die erhoffte Wende zu erzwingen. Doch noch einmal spannend wurde es erst, als mit dem früheren Leverkusener Renato Augusto der dritte „Ex“ eingewechselt wurde und nur drei Minuten später auf 1:2 verkürzte (76.). Es war die Initialzündung für eine berauschende Schlussphase, die jeden, aber wirklich jeden der 42.873 Zuschauer von den Sitzen riss. Doch als Schiedsrichter Mazic nach 95 Minuten dann doch abpfiff, war die nächste Überraschung dieser WM perfekt und das letzte Team außerhalb Europas ausgeschieden. Adeus, Brasil!

    Belgien darf sich dagegen darauf freuen, am Dienstag in Sankt Petersburg den nächsten WM-Favoriten massiv zu ärgern. Zweimal traf der kleine Bruder Belgien bei WM-Turnieren bislang auf den großen Bruder Frankreich – und zweimal (1986 und 1938) siegte La France. Doch diese „Noch nie bei einer WM gewonnen“-Geschichte wurde den Belgiern ja auch schon vor dem Duell gegen Brasilien zu Genüge erzählt. Und das Ende dieser Geschichte ist seit Freitagabend hinlänglich bekannt.

    Fortsetzung folgt. Am Dienstag. Und de Bruyne dachte schon einen Schritt weiter: "Wir sind in den Top Vier, aber jeder will dieses Finale spielen."