St. Petersburg. Neymar vergoss nach Brasiliens 2:0-Sieg gegen Costa Rica Tränen der Erleichterung. Vorausgegangen war ein zäher, mühevoller Kampf.

Es war ein Jubelschrei von echter Sommermärchen-Dimension, der in dieser magischen 91. Minute hinaus auf die aufgewühlte Ostsee wehte. Philippe Coutinho hatte den Ball tatsächlich doch noch ins Tor der armen Costa Riacaner befördert, die Massen im Publikum stürzten übereinander, Brasiliens Trainer Tite sprintete, verlor die Kontrolle über seinen Körper, halb rennend halb stürzend versuchte er dieser Explosion der Gefühle Herr zu werden. Es war ein Gemälde von einem Fußballmoment. Und weil in diesem Sport fast alles schon mal dagewesen ist, gab es auch für diesen Augenblick eine sehr besondere Entsprechung aus der WM-Geschichte. Als Oliver Neuville Deutschland 2006 mit seinem Treffer in der Nachspielzeit des zweiten Turnierspiels gegen Polen endgültig in Sommermärcheneuphorie versetzte, hatten sich ähnliche Szenen abgespielt: Die große Erlösung nach zähen 90 Minuten der Ungewissheit. „Es gibt eine lange Straße, die wir bereisen müssen, und wir müssen auf dieser Reise wachsen“, sagte Tite poetisch, nachdem er wieder auf den Beinen war.

WM 2018 in Zahlen

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    Wenn nicht alles täuscht, ist Brasilien ist in diesen finalen Minuten eines zähen, mühevollen Kampfes endgültig in diesem Turnier angekommen. Zumal dieser Sieg ganz am Ende sogar noch mit einem hübschen Schleifchen verziert wurde. Neymar, von dem die halbe Welt Wunderdinge erwartet, der von sich selbst sagt, dies könne sein Turnier werden“, hat dann auch noch das 2:0 erzielt. Das war die Vollendung dieser süßen brasilianischen Minuten der Befreiung. Die „emotionale Komponente“ dieses Erlebnisses sei „sehr stark“, bestätigte Tite.

    Videoassistent nahm Elfmeterpfiff zurück - erstmals bei einer WM

    Als die Nachspielzeit begann, waren allerdings noch keine Tore gefallen, nach dem 1:1 gegen die Schweiz drohte der Mitfavorit auf den Titel erneut sieglos zu bleiben. Das ganze große WM-Projekt war in Gefahr, der Sturmlauf der zweiten Hälfte war nicht belohnt worden, und sogar einen Moment tiefer Frustration hatte es für Brasilianer gegeben. Erstmals in der WM-Geschichte war ein Elfmeterpfiff durch den Eingriff der Videoassistenten wieder rückgängig gemacht worden. Der Ball hatte schon auf dem Punkt gelegen, die Leute jubelten bereits, als die ernüchternde Botschaft auf der Anzeigetafel erschien: „No Foul. No Penalty.“ Neymar war nach einer leichten Berührung gefallen, die Korrektur der Unparteiischen war eher richtig, auch wenn die Brasilianer hier anderer Meinung waren. In diesem Moment wirkte der Vorgang tatsächlich wie ein besonders gemeiner Hinterhalt, beinahe, als hätten sie den Elfmeter verschossen. Aber irgendwie haben sie es trotzdem hingebogen.

    Tief bewegt von dieser Achterbahnfahrt der Gefühle sank Neymar nach dem Spiel auf den Rasen, er weinte Tränen der Rührung, Tränen der Erleichterung. „Wir spüren, dass die Verantwortung sehr groß ist, wenn man in dieser Mannschaft spielt“, versuchte Coutinho die großen Emotionen dieses Tages zu erklären. Bis zum dramatischen Schlussakt war nämlich diese alte, gefährliche brasilianische Schwere zu spüren gewesen, die das Team vor vier Jahren fast erdrückt hatte. Die Lähmung wirkte in Russland bisher zwar nicht ganz so massiv wie bei der mit Erwartungen überfrachteten Heim-WM. Aber die Dinge laufen nicht so leichtgängig, wie noch in der Qualifikation, als Brasilien Südamerika souverän dominierte.

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    Und das liegt auch daran, dass die Gegner bei dieser WM voller Hingabe verteidigen, sie führen harte Zweikämpfe und verdichten die Räume, ein leichtfüßiges Kombinationsspiel ist da kaum möglich. Lange litt Brasilien unter dem Problem, mit dem alle Teams konfrontiert sind, die einen dominanten Ballbesitzfußball spielen wollen: Es fehlte die Tiefe im Spiel. Und wenn mal ein paar Räume da waren, agierten sie nicht präzise genug. Mitte der ersten Hälfte wurde das Spiel des Titelkandidaten zwar druckvoller, klare Chancen ergaben sich daraus aber nicht.

    Brasilien braucht nach der WM 2014 kein neues Drama

    Immerhin ließen sie kaum gefährliche Konter zu, es war lange Zeit kein besonders attraktives Fußballspiel. Erst in der zweiten Halbzeit wurde das Spiel der Brasilianer dann „wunderschön“, wie Tite fand, und plötzlich ergaben sich auch gute Chancen. Gabriel Jesus köpfte an die Latte (49.), es folgte eine ganze Serie gefährlicher Torabschlüsse, doch Coutinho (49., 58.) scheiterte, Costa Ricas Torhüter Keylor Navas bugsierte einen Neymar-Schuss an die Latte (56.), bevor der Superstar nach 72 Minuten unbedrängt aus 16 Metern zum Abschluss kam und das Tor verfehlte. Damit lagen eigentlich alle Zutaten für einen tragischen Misserfolg, nur der Gegentreffer nach einem Konter fehlte noch, für eine Tragödie in blau-gelb. Doch diese Brasilianer brauchen kein neues Drama, nachdem schon die WM von 2014 so schrecklich geendet war. "Unsere große Stärke, war, dass wir bis zur letzten Minuten nicht aufgegeben haben“, sagte Coutinho, und diese Attitüde war nach diesem Spielverlauf tatsächlich ein Zeichen echter Stärke.