Berlin. Kerstin Claus wurde als Jugendliche selbst zum Opfer. Jetzt kämpft sie als Beauftragte der Bundesregierung gegen sexuellen Missbrauch.

Es ist kein leichtes Amt, das Kerstin Claus übernommen hat. Seit April dieses Jahres ist die 59-jährige Journalistin und systemische Beraterin die neue Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Und die Liste der Aufgaben, die sie angehen will, ist lang.

„Ich kämpfe dafür, sichtbar zu machen, dass sexueller Missbrauch jede und jeden angeht“, sagte Claus bei ihrer Antrittspressekonferenz am Dienstag in Berlin. Alle müssten lernen, es für möglich zu halten, dass die Taten im persönlichen Umfeld passieren, „dass wir alle mit großer Wahrscheinlichkeit betroffene Kinder und wahrscheinlich auch Täter und Täterinnen kennen.“ Nur wer das begreife, werde Missbrauch wahrnehmen, sich zuständig fühlen und bereit sein zu handeln.

Claus weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat als Jugendliche Missbrauch erfahren, durch einen evangelischen Pfarrer. Seit Jahren engagiert sie sich für die Rechte der Opfer, seit 2016 war sie Mitglied im Betroffenenrat ihres Amtsvorgängers Johannes-Wilhelm Rörig, seit 2019 außerdem Mitglied im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen des Familienministeriums.

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„Sexuelle Gewalt ist strategisch geplant“

Die Betroffenenperspektive, hob sie am Dienstag hervor, sei zentral für die Prävention und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. „Betroffene kennen Täterstrategien“, sagte Claus. „Sexualisierte Gewalt ist gezielt angebahnt, ist strategisch geplant.“ Und das Wissen um diese Strategien und darum, was geholfen hätte, sei essenziell in der Prävention. „Deswegen ist der Einbezug von Betroffenen in vielfältige Prozesse für mich absolut relevant.“ Sie werbe deshalb dafür, dass auch in den Ländern Betroffenenräte geschaffen würden, die mit den politischen Strukturen zur Bekämpfung von Missbrauch verknüpft seien.

Von der Bundesebene allein, betonte sie, könne Missbrauch nicht bekämpft werden. Viele entscheidende Strukturen liegen auf der Ebene der Länder und Kommunen. Mit diesen will sie deshalb das Gespräch suchen, um möglichst flächendeckend Netzwerke von Ansprechpartnern für einen besseren Schutz und Informationen über Hilfsangebote zu schaffen.

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Eine große Leerstelle im Kampf gegen Missbrauch sieht die neue Beauftragte bei der Datenbasis: Es sei ein „Skandal“, dass es 2022 immer noch keine verlässlichen Zahlen zum Ausmaß des Problems gäbe, sagte sie. Es brauche Forschung und Daten, die systematisch und kontinuierlich erhoben werden, möglichst durch ein nationales Kompetenzzentrum. Das sei wichtig, auch um die Wirkung politischer Maßnahmen gegen Missbrauch zu überprüfen.

Eine Kampagne soll aufklären – doch die Finanzierung fehlt noch

In diesem Herbst soll eine lange geplante Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne der Bundesregierung starten, die das Tabu um das Thema Missbrauch brechen soll. Sie soll außerdem helfen, sexuelle Gewalt zu identifizieren und Handlungsoptionen aufzeigen.

Angestoßen hatten das noch die ehemalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Claus‘ Vorgänger Rörig. Die Kampagne ist ausgelegt auf mehrere Jahre – doch bislang sei das Geld dafür nicht gesichert, sagte Claus. Die Verhandlungen darüber laufen noch. Sie forderte, die Mittel zügig zur Verfügung zu stellen: „Ich kann nur dringend darauf hinweisen, dass diese Kampagne wichtig ist, wenn wir das Thema sexualisierte Gewalt aus dem Tabu holen wollen.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.