Nur-Sultan. In Kasachstan sind Demonstrationen in Gewalt umgeschlagen. Das Innenministerium spricht von Toten. Russland verlegt erste Truppen.

  • In Kasachstan ist die Lage weiterhin unübersichtlich
  • Das Internet wurde offenbar in der Millionenstadt Almaty abgeschaltet
  • Es gibt Berichte über Tote und rund 1000 Verletzte
  • Russland schickt erste Soldaten nach Kasachstan

Die schweren Ausschreitungen in Kasachstan dauern an: Angesichts der Unruhen hat Russland nun Soldaten in das zentralasiatische Land verlegt. Es seien Fallschirmjäger als Teil einer Friedenstruppe entsandt worden, so mehrere russische Staatsagenturen am Donnerstag übereinstimmend unter Berufung auf die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).

Staatschef Kassym-Schomart Tokajew hatte wenige Stunden zuvor ein von Russland geführtes Militärbündnis um Hilfe gebeten. Er habe die Staatschefs der in der OVKS verbündeten Staaten darum gebeten, Kasachstan "bei der Überwindung dieser terroristischen Bedrohung zu unterstützen", sagte Tokajew in der Nacht zu Donnerstag in einer Fernsehansprache. Das Militärbündnis hatte am späten Mittwochabend seine Hilfe zugesagt.

Wie das Gesundheitsministerium des Landes kasachischen Medien zufolge am Donnerstag mitteilte, seien bei den schweren Ausschreitungen bisher mehr als 1000 Menschen verletzt worden. 400 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden. Davon müssten 62 auf Intensivstationen behandelt werden. Zu Todesopfern wurden keine Angaben gemacht.

Kasachstan: Berichte über Schusswechsel

Wie die russische Staatsagentur Tass unter Berufung ihres Korrespondenten vor Ort berichtete, habe es am frühen Donnerstag vor dem Rathaus in der Millionenstadt Almaty einen "heftigen Schusswechsel" zwischen Dutzenden bewaffneten Menschen und dem Militär gegeben. 300 Soldaten seien etwa in gepanzerten Mannschaftswagen angerückt.

Ein Polizeisprecher sagte, "extremistische Kräfte" hätten versucht, Verwaltungsgebäude sowie die Zentrale und mehrere Dienststellen der Polizei in Almaty zu stürmen. Dutzende Angreifer seien "eliminiert" worden.

Zu Opferzahlen gab es zunächst keine Angaben. Internetseiten kasachischer Medien waren am Morgen nicht vom Ausland aus zu erreichen. Die genaue Lage war deshalb unklar. Laut Tass sei das Internet in der Nacht zu Donnerstag abermals abgeschaltet worden. Die Webseiten des Präsidialamts und anderer Regierungsbehörden waren ebenso wenig zu erreichen wie jene von Flughäfen und Polizeibehörden. Auch aus Deutschland waren Internetseiten wie die der staatlichen Nachrichtenagentur Kazinform und anderer Medien nicht abrufbar.

Kasachstan: Kompletter Internetausfall in Almaty

Laut Tass herrschte in Almaty ein kompletter Internetausfall, soziale Netzwerke als zentrales Koordinierungsinstrument von Demonstranten waren damit lahmgelegt. Das Mobilfunknetz in der Wirtschaftsmetropole war demnach tot. Das Internet war erstmals am Mittwochnachmittag lahmgelegt worden, vermutlich, um weitere Versammlungen zu erschweren.

Im Zentrum Almatys gebe am Donnerstagmorgen keine Demonstranten und Soldaten mehr, berichtete das kasachische Medium Vlast im Nachrichtenkanal Telegram. Viele Supermärkte und Geschäfte seien geplündert worden, darunter der Laden eines Waffenhändlers. Zudem seien viele Geldautomaten gesprengt worden. In der Stadt rieche es "stark nach Feuer."

Das US-Außenministerium hatte noch am Mittwoch wiederum Sicherheitskräfte und Demonstranten zur Mäßigung aufgerufen und eine friedliche Beilegung des Konflikts gefordert. "Wir bitten alle Kasachen, die verfassungsmäßigen Institutionen, die Menschenrechte und die Pressefreiheit inklusive einer Wiederherstellung des Internetzugangs zu respektieren und zu verteidigen", erklärte der Sprecher des Ministeriums, Ned Price. Die USA forderten alle Parteien dringend auf, angesichts des Ausnahmezustands eine friedliche Lösung zu finden, so Price.

Kasachstan: Gewalt nach Protesten wegen hoher Gaspreise

Der Unmut über hohe Preise für Flüssiggas an den Tankstellen war in Kasachstan zuvor gewaltsame Proteste umgeschlagen. Die Regierung trat zurück. Die Lage in der Ex-Sowjetrepublik ist unübersichtlich: Nach gewaltsamen Ausschreitungen schritt das Militär ein.

„Terroristische Banden“ hätten sich in der Großstadt Almaty einen Kampf mit Fallschirmjägern geliefert, sagte Präsident Kassym-Jomart Tokajew in der Nacht zum Donnerstag in einer Fernsehansprache. Der Flughafen der Stadt sei befreit.

In dem autoritär geführten Land wurde der Ausnahmezustand verhängt. In der Wirtschaftsmetropole Almaty kam es zu Krawallen. Demonstranten stürmten die Stadtverwaltung und die Residenz von Präsident Kassym-Jomart Tokajew.

Kasachstan: Nach Ausschreitungen am Mittwoch wohl Tote

Bei den heftigen Ausschreitungen am Mittwoch wurden mindestens acht Polizisten und Soldaten der Nationalgarde getötet, wie das Innenministerium kasachischen Medien zufolge mitteilte. 317 weitere seien verletzt worden. Tokajew hatte zuvor bereits von Todesopfern bei den Unruhen in den Reihen der Sicherheitskräfte gesprochen.

Die Lage war zunächst unübersichtlich. Genaue Opferzahlen gab es nicht. Auf jeden Fall ist es in der ehemaligen Sowjetrepublik, die Jahrzehnte lang von Machthaber Nursultan Nasarbajew regiert wurde, die größte Protestwelle seit Jahren. Das Land mit mehr als 18 Millionen Einwohnern grenzt unter anderem an Russland und China. Es ist reich an Öl, Gas und Uran. Trotzdem kämpft Kasachstan mit Misswirtschaft und Armut. Korruption ist verbreitet.

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In Almaty im Südosten des Landes herrschte Chaos. Die Nachrichtenagentur Tengrinews veröffentlichte Videos, die Flammen am Sitz der Stadtverwaltung zeigten. Schwarzer Rauch stieg auf. Immer wieder waren Knallgeräusche zu hören. Feuer sollen auch in anderen öffentlichen Einrichtungen ausgebrochen sein. Es brannte auch in der Residenz des Präsidenten. Demonstranten zerstörten Fenster mehrerer Gebäude und zündeten Autos an.

Behörden versuchen, Versammlungen zu erschweren

Wie viele Tausend Menschen sich an den Protesten beteiligten, war unklar. Am Nachmittag war es schwer, ein genaues Bild von der Lage zu bekommen. Das Internet wurde erstmals abgeschaltet - vermutlich, um neue Versammlungen zu erschweren. Mehrere Fernsehsender stellten den Betrieb ein. Zudem soll der Flughafen besetzt worden sein. Die Behörden sprachen am Nachmittag allein in Almaty von 500 Verletzten.

Tokajew sagte in einer Ansprache: „Die Situation bedroht die Sicherheit aller Bürger von Almaty. Das kann nicht toleriert werden.“ Die Sicherheitskräfte würden „so hart wie möglich“ vorgehen. Der Präsident kündigte zudem Reformen an. Konkret wurde er aber nicht.

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Bereits in der Nacht zuvor hatte es heftige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gegeben. Den Behörden zufolge wurden 190 Menschen verletzt. Auch in anderen Städten gingen Menschen auf die Straße. Landesweit gab es bis Mittwochmorgen dem Innenministerium zufolge 200 Festnahmen.

Der Protest hatte am Wochenende begonnen. Auslöser waren deutlich gestiegene Preise für Flüssiggas an den Tankstellen. Viele Kasachen tanken Flüssiggas, weil es billiger als Benzin ist. Die Regierung begründete die höheren Preise zunächst mit gestiegener Nachfrage. Seit Jahresbeginn wird der Gashandel komplett über die Energiebörse abgewickelt. Die Inflation stieg stark, was für Unmut sorgte.

Russland ruft zu friedlicher Lösung auf

Tokajew versuchte, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen. „Reagieren Sie nicht auf die Aufrufe, offizielle Gebäude zu stürmen. Das ist ein Verbrechen“, sagte der Staatschef, der seit 2019 im Amt ist. Nach seiner Wahl hatte es ebenfalls Proteste mit Hunderten Festnahmen gegeben. Für die jetzige Gewalt machte der 68-Jährige „in- und ausländische Provokateure“ verantwortlich.

Tokajew ordnete auch Preissenkungen an. Viele Demonstranten gaben sich damit nicht zufrieden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit trat Ministerpräsident Askar Mamin mit seiner gesamten Regierung zurück. Der bisherige Vize Älichan Smajylow übernahm die Amtsgeschäfte. Russland rief zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf. Ähnlich äußerten sich die US-Regierung und die EU. Washington rief zugleich die Behörden zur Zurückhaltung auf.

Kasachstan wurde bis 2019 von Nasarbajew regiert. Auch nach seinem Abgang blieb der Langzeitherrscher einflussreich, etwa als Chef des Sicherheitsrates. Tokajew kündigte nun an, dass er diesen Posten übernommen habe. Es gab auch Spekulationen über einen Umsturz.