Berlin. Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze spitzt sich zu einer humanitären Katastrophe zu. Helfer kommen nicht in die Sperrzone.

  • An der polnisch-belarussischen Grenze wird die Lage für die dort ausharrenden Menschen schlimmer
  • Hilfsorganisationen kommen nicht durch
  • Ein Sperrgebiet verhindert den Zugang

15 Kilometer vor der Grenze ist Schluss. Weiter kommt der Hilfskonvoi nicht. Polnische Polizeikräfte kontrollieren den großen weißen Reisebus mehrfach, stoppen ihn schließlich ganz. Polizisten durchsuchen den Bus, das Gepäck, verlangen Ausweise der Fahrgäste. An Bord sind Aktivistinnen und Aktivisten des deutschen Hilfsbündnisses „Mauerfall Jetzt“. Sie wollen jede Menge Sachspenden, Wärmedecken, Winterschuhe, Powerbanks zu den Geflüchteten an der Grenze zu Belarus liefern. Menschen harren dort seit Tagen und Wochen in dem Niemandsland vor der EU aus und versuchen immer wieder, den Stacheldrahtzaun zu durchbrechen und nach Polen zu kommen.

Dabei ist auch der Hamburger Fotojournalist Hami Roshan. Seine Bilder dokumentieren die Reise, sie liegen unserer Redaktion vor. Die Fotos zeigen, wie die Gruppe mit dem Reisebus werbewirksam vor dem Brandenburger Tor in Berlin steht, kurz vor der Abfahrt Richtung belarussische Grenze.

Sie zeigen, wie die Aktivisten Kartons mit Hilfsmitteln in geheimen Verstecken in der Nähe der Grenze deponieren. Denn die Hilfe für die Geflüchteten, die auf eigene Faust die Grenze überschreiten, sei in dem Gebiet illegal, berichtet Roshan. Seine Fotos zeigen auch, wie polnische Polizisten den Bus auf der Landstraße anhalten, Beamte Papiere verlangen.

Hilfsorganisationen kommen nicht in die Sperrzone an der Grenze

Der Bus mit den Hilfsgütern kommt nicht direkt ans Ziel, nicht zu den Menschen am Grenzzaun. Das Gebiet ist Sperrzone, die polnischen Sicherheitskräfte lassen kaum jemanden durch. Auch ausländische Nicht-Regierungs- und Hilfsorganisationen dürfen nicht rein, erzählt Axel Grafmanns vom Verein „Wir packen’s an“ unserer Redaktion. Genauso wenig die Presse, abseits ausgewählter staatsnaher Medien.

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, die Bundesregierung setze sich für den Zugang von Hilfsorganisationen zum Grenzgebiet ein, Das UN-Flüchtlingswerk und die Internationale Organisation für Migration stünden quasi in den Startlöchern. Davon merken die Aktivistinnen und Aktivisten nichts. IOM und UNHCR sind nicht vor Ort, auch nicht das Internationale Rote Kreuz. Ins Sperrgebiet darf nur, wer dort lebt – und Polizei und Militär.

Die Einsatzkräfte auf beiden Seiten der Grenze würden brutal vorgehen, das ist zu hören in Berichten der Aktivisten, zu sehen in Bildern und Videos in den sozialen Medien. „Die Menschen sind schwer misshandelt worden, es wurden Hunde auf sie gehetzt“, so Grafmanns. „Die Menschen haben Knochenbrüche, Bisswunden, Schwellungen, Entzündungen. Ich befürchte eine große Katastrophe mit dem einbrechenden Winter.“

Aktivisten: Illegale sogenannte Pushbacks an der Tagesordnung

Seebrücke-Aktivistin Liza Pflaum war vor Ort, als Teil des Hilfskonvois. Sie erzählt von einer fünfköpfigen Familie, die acht Mal versucht habe, die Grenze zu überqueren. Jedes Mal wurde sie zurückgebracht nach Belarus. „Für diese Menschen gibt es kein Zurück mehr“, sagt Pflaum. „Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, nach Polen zu kommen.“

Pushbacks, also das Zurückschicken von Flüchtlingen, seien aus rechtlicher Sicht klar einzuordnen, so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl: „Es ist eindeutig illegal, schutzsuchende Flüchtlinge auf europäischem Boden ohne Zugang zu einem Asylverfahren zurück zu verfrachten.“

Die Vereine des Hilfsbündnisses und Pro Asyl fordern die sofortige Aufnahme und Evakuierung der Menschen. Die Sorge, dass damit Präsident und Diktator Lukaschenkos „Erpressung“ beigegeben und weitere Fluchtbewegungen verursacht würden, teilen sie nicht: „Das ist meiner Meinung nach ein strategischer und logischer Fehlschluss“, sagt Seebrücke-Aktivistin Pflaum. „Warum ist die EU erpressbar? Weil sie in den vergangenen Jahren nicht in der Lage war, einen gemeinsames Asylsystem zu etablieren. Lukaschenko will diese Bilder schaffen, die wir momentan an der Grenze sehen. Wenn wir die Menschen aufnehmen, hat er dieses Druckmittel nicht mehr. Wir haben in der EU das Grundrecht auf Asylrecht, und an dessen Einhaltung müssen wir arbeiten.“

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Pro Asyl-Geschäftsführer Burkhardt: „Wir sehen eine Verrohung der Sprache"

„Erpresst werden kann nur, wer sich erpressen lässt", sagt auch Günter Burkhardt von Pro Asyl. „Die Bilder verzweifelter, hungriger Menschen produzieren leider angesichts der Kriegsrethorik keine Empathie. Man suggeriert stattdessen, sie seien eine Bedrohung. Aus hilfsbedürftigen Menschen wird eine Bedrohung gemacht."

Es sei eine Verrohung, sagt Burkhardt: „Wir sehen eine Verrohung der Sprache, wenn aus Flüchtlingen illegale Migranten werden. Und wir sehen eine Verrohung des Handels, wenn mit brutalen Mitteln die EU-Außengrenzen geschlossen werden."

Im Zusammenhang mit den Geflüchteten von Belarus wird militärische Sprache benutzt: Sie seien eine „Waffe" Lukaschenkos gegen die EU, Polen werde „angegriffen". „Rechte Kräfte inszenieren seit Jahren eine Gefahrenlage – und das mit Erfolg. Es ist ja gar nicht mehr klar, dass wir hier von Menschen reden", so Liza Pflaum.

Der Verein Seebrücke sieht die potentielle künftige Ampelkoalition in der Verpflichtung. Die hat sich noch nicht zur möglichen Aufnahme Geflüchteter geäußert. Stattdessen fordern beispielsweise Robert Habeck und Annalena Baerbock von den Grünen, die Sanktionen der EU „gegen das belarussische Regime und relevante Wirtschaftssektoren" zu verschärfen. Sie fordern außerdem eine Aufklärungskampagne in den Herkunftsländern, um zu verhindern, dass sich weitere Menschen auf den Weg machen.

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