Berlin. Die Terroranschläge in den USA haben auch in Deutschland zu Veränderungen geführt. Unser Autor bilanziert: Das Land ist sicherer.

Am Morgen danach, gegen acht Uhr, lässt sich August Hanning mit dem Kanzleramt verbinden. Er will den Amtsleiter persönlich sprechen – Frank-Walter Steinmeier, der heutige Bundespräsident.

Hanning hat die Antwort auf eine Frage, die am 12. September 2001 die ganze Welt umtreibt: Wer hat am Vortag die Zwillingstürme des World Trade Center in New York zum Einsturz gebracht? Wer sind die Terroristen? Lesen Sie dazu: Zwanzig Jahre 11. September: Was wurde aus Guantanamo?

Terroranschläge: BND gab Hinweis auf Al-Kaida

Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) hatte mit seinen Agenten „gleich auf Al-Kaida getippt und unsere (Funk-)Aufklärung in Afghanistan hochgefahren“. Binnen Stunden ist klar: Bin Laden hat den Anschlag angeordnet.

Steinmeier: „Stimmt das wirklich?“

Hanning: „Wir sind sehr sicher.“

Der 75-jährige Hanning erinnert sich, „unsere Erkenntnisse, das weiß ich definitiv, sind auch sofort dem amerikanischen Präsidenten vorgelegt worden“.

Bundesnachrichtendienst beschäftigte sich erst seit 2001 intensiver mit Terrorbekämpfung

Seit dem versuchten Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt im Jahr 2000 war Hanning alarmiert. Erst im August hatte er beim BND eine Abteilung für Terrorbekämpfung eingerichtet.

„Wir hatten im August gesehen, dass die Al-Kaida-Leute ihre Camps in Afghanistan verließen.“ Die Frage war, warum? Und die Antwort lautete: „Die planen irgendeine Schweinerei und nehmen Schläge gegen ihre Lager vorweg.“ Als Ziele hatte der BND an die Botschaften oder an die US-Navy gedacht, nicht aber an einen offenen Angriff in den USA. „Wir haben ihnen die logistische Leistung, die dem Angriff auf das World Trade Center zugrunde lag, nicht zugetraut. Da haben wir sie unterschätzt.“

Auch Bundesregierung stand nach 9/11 unter Druck

Die rot-grüne Bundesregierung muss nun aus dem Stand handeln und steht massiv unter Druck der USA; erst recht, als sich herausstellt, dass die Terroristen aus Hamburg kamen. „Wir sahen uns in einer besonderen Pflicht“, erinnert sich Hanning. Die Amerikaner seien bass erstaunt gewesen, „wie schnell wir in Erfahrung brachten, wo die alle gewohnt hatten. Die Islamisten waren alle ordentlich gemeldet“.

Für die 38 deutschen Sicherheitsbehörden ist 9/11 ein Stresstest, für die Freiheitsrechte nicht weniger. An die 100 Maßnahmen und Gesetze werden angepasst, anfangs zu Paketen geschnürt. Bald bürgert sich der Begriff „Otto-Kataloge“ ein, damals benannt nach Innenminister Otto Schily (SPD).

Otto Schily (SPD), damaliger Bundesinnenminister, legte eine Reihe neuer Sicherheitsgesetze vor.
Otto Schily (SPD), damaliger Bundesinnenminister, legte eine Reihe neuer Sicherheitsgesetze vor. © imago/Hans-Günther Oed | imago/Hans-Günther Oed

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Deutsche Reaktion auf 9/11 - diese Gesetze folgten

Schily hat mit seinen Sicherheitsgesetzen das Land verändert wie zuvor allenfalls auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors in den 70er-Jahren. Die Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorvereinigung wird unter Strafe geführt, die Rasterfahndung gestartet, ein Terrorabwehrzentrum aufgebaut. Der biometrische Reisepass wird in jenen Tagen eingeführt.

Ein Luftsicherheitsgesetz ermächtigt die Bundeswehr, ein entführtes Passagierflugzeug abzuschießen. Nach Schily folgt unter Wolfgang Schäuble (CDU) unter anderem die Anti-Terror-Datei, die Vorratsdatenspeicherung oder die Online-Durchsuchung.

Jeder kann ins Visier der Behörden geraten, die wenigsten aber tatsächlich. Im Jahr 2018 beispielsweise wurden in insgesamt 222 Fällen Abhör- und Postkontrollmaßnahmen der Geheimdienste des Bundes genehmigt. 8,3 Millionen Bürger werden nach dem Terroranschlag von der Rasterfahndung erfasst, und gerade für Muslime ist der Überwachungsstaat real. 1689 muslimische Studenten werden überprüft – kein einziger potenzieller Terrorist wird dabei gefunden.

Das Novum beim Anschlag war, dass die Attentäter sich selbst opferten, um das Flugzeug als Waffe zu benutzen. Plötzlich waren Flugzeuge nicht Verkehrsmittel, sondern potenzielle Waffen.

Nach 9/11: Engmaschigere Kontrollen beim Fliegen

Massiv und nun wirklich für jeden erfahrbar werden die Kontrollen verschärft. Die Cockpit-Türen sind fortan von innen verschlossen, bewaffnete Polizisten ohne Uniform, die Sky-Marshalls, mischen sich unter die Passagiere. Das Gepäck wird gescannt, in der Kabine darf man keine gefährlichen Gegenstände mitnehmen, später wird die Auflage auf Flüssigkeiten ausgeweitet. Die Personenkon­trollen werden verschärft und verfeinert, zum Beispiel das Erkennen von Sprengstoff oder von Drähten im Gepäck.

Nicht weniger wirksam war das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin, wo Geheimdienste und Polizei Informationen austauschen. Man habe mindestens 23 Anschläge in Deutschland verhindern können. Eine Attacke wie in New York hat sich nicht wiederholt.

Verfassungsrichter setzen den Polizeibehörden Grenzen

Einige Maßnahmen hat das Verfassungsgericht begrenzt (Anti-Terror-Datei), andere wie die Rasterfahndung und die Lizenz zum Abschuss eines Flugzeuges ganz gekippt. Wieder andere haben sich als praxisfremd erwiesen, zum Beispiel die Terrorcamps-Strafbarkeit.

Die Sicherheitsbehörden erfahren einen enormen Bedeutungszuwachs: mehr Aufmerksamkeit, Befugnisse, Geld und Personal. Allein das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die Zahl seiner Mitarbeiter von 2000 auf über 4000 verdoppelt.

Keine Gesetzesverschärfung wird zurückgenommen, alle paar Jahre werden die ursprünglich auf fünf Jahre befristeten „Otto-Kataloge“ verlängert, bis sie am 5. November 2020 entfristet werden. Für die Debatte am Abend genehmigt sich der Bundestag eine halbe Stunde Zeit. Kaum einer nimmt davon Notiz.

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