Berlin. Afghanistan-Veteranen kritisieren die Regierung für die Art des Bundeswehr-Rückzugs vom Hindukusch. Dunja Neukam ist eine von ihnen.

Wenn Dunja Neukam vor dem Fernseher sitzt und die neuen Berichte aus Afghanistan sieht, reagiert ihr Körper. Besonders heftig war es unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August. „Über Tage hatte ich einen anhaltend hohen Puls“, erzählt die 49-jährige Bundeswehr-Veteranin. Die Bilder haben sie umgetrieben und auch traurige Erinnerungen wachgerufen. „Ich habe in Afghanistan viel gesehen“, sagt sie.

Vier Mal war die einstige Zeitsoldatin zwischen 2002 und 2010 in der afghanischen Hauptstadt Kabul im Einsatz. Als Intensivkrankenschwester kümmerte sie sich um viele Soldaten, die bei Anschlägen und in Gefechten verwundet wurden. Auch sie selbst hat Beschuss erlebt. Das erste Mal gleich in ihrer ersten Einsatzzeit, auf dem Weg zwischen ­Bagram und Kabul. 2010 dann auch im Lager der Bundeswehr. Neukam flüchtete in einen Bunker.

Afghanistan-Veteranin: Mehr Bedarf an Hilfe und Unterstützung

59 deutsche Soldaten kamen in 20 Jahren Einsatz am Hindukusch ums Leben. Es war das größte, opferreichste und teuerste Auslandsengagement der Bundeswehr. Mit einigen der Gefallenen war Neukam gut befreundet, feierte Geburtstag. Hunderte weitere Kameraden sind mit Verletzungen an Körper und Psyche heimgekehrt. „Die jüngsten Bilder aus Kabul haben die seelischen Wunden neu aufgerissen“, sagt Neukam.

Stabsfeldwebel der Reserve ist sie inzwischen, hat Psychologie studiert und arbeitet in einer Pflegeeinrichtung für Schwerstbehinderte in Rheinland-Pfalz. Zugleich ist sie ehrenamtliches Vorstandsmitglied im Bund Deutscher Einsatzveteranen und betreut frühere Kameradinnen und Kameraden. Seit dem Machtwechsel in Afghanistan sind die Gespräche mit ihnen deutlich mehr geworden.

„Viele von ihnen wissen derzeit nicht, wohin mit ihren Gedanken“, berichtet Neukam. „Viele wurden re­traumatisiert, haben Panikattacken, Flashbacks, Schlafstörungen und müssen wieder Medikamente nehmen oder brauchen erneut eine Psychotherapie.“ Es gebe wieder mehr Bedarf an Hilfe und Unterstützung. Zugleich beobachtet Neukam bei sich und anderen ehemaligen Afghanistan-Soldaten noch ein anderes Gefühl: tiefe Wut.

Flucht aus Afghanistan

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    Afghanische Armee war sehr gut ausgebildet

    „Als ich im Fernsehen erst die Bilder gesehen habe, wie die Taliban eine Stadt nach der anderen einnehmen, während der Westen sich zurückzieht, war ich fassungslos. Als dann die Taliban nach Kabul durchmarschierten und gewissermaßen die Schlüssel überreicht bekamen, war ich außer mir“, erzählt Neukam. „Ich war so unglaublich wütend.“

    Sie frage sich nach wie vor, warum die afghanische Armee so schnell aufgegeben habe. „Wir haben sie sehr gut ausgebildet. Wir haben viel investiert, auch menschlich. Ich verstehe es nicht.“

    Zugleich ärgert sich Neukam darüber, wie die deutsche Regierung mit den afghanischen Helfern umgehe. Schon Monate vor dem Bundeswehr-Abzug hätten Hilfsorganisationen darauf hingewiesen, „dass es für die Ortskräfte gefährlich ist und dass sie rausgeholt werden müssen. Denn sie haben von den Taliban Schreckliches zu befürchten. Aber in Deutschland wurde nicht hingehört.“

    Dabei gehe es um das Leben von Menschen, „die uns geholfen haben“. Stattdessen sei über Visaanträge und Einreiseformalitäten geredet worden. „Und dann sehe ich diese furchtbaren Bilder, wie die Menschen in Kabul völlig verzweifelt an abhebenden Flugzeugen hängen, weil sie Todesangst vor den Taliban haben.“

    Neukam „fassungslos“: Verantwortung bei Kramp-Karrenbauer und Maas

    Es mache sie sprachlos, wie schlecht geplant dieser Abzug gewesen sei. „Und ich finde es einfach frech, wenn sich Regierungspolitiker jetzt hinstellen und sagen, sie hätten von der Situation in Afghanistan nichts gewusst. Das glaube ich einfach nicht“, sagt Neukam.

    Die Verantwortung für den überhasteten Rückzug der Bundeswehr und die chaotischen Szenen bei der Evakuierung aus Kabul sieht die Ex-Soldatin ganz oben: „Was ist mit der Verteidigungsministerin und dem Außenminister?“ Bei ihnen säßen doch in erster Linie die Experten, die die Lage im Blick behalten sollten. „Das sind Berater und hoch dotierte Offiziere. Wo war ihr Sachverstand?“ Hier sei einiges falsch gelaufen.

    Bei Gesprächen im Kameradenkreis merkt Neukam, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein ist. „Den anderen geht es wie mir. Sie sind schlicht fassungslos. Die Wut ist riesig groß“, erzählt Neukam. Zugleich stellen sich viele Veteraninnen und Veteranen die Sinnfrage. 20 Jahre Einsatz unter Lebensgefahr, dann kommen die radikalislamistischen Taliban, der Feind, und überrennen das Land in kürzester Zeit ohne nennenswerten Widerstand. Für viele Soldaten ist das ex­trem bitter. Lesen Sie hier: Al-Kaida gratuliert Taliban zu Sieg in Afghanistan

    Was können deutsche Soldaten im Ausland bewirken?

    Dabei sei in den ersten Jahren die Euphorie auch in der Bundeswehr groß gewesen. „Wir wollten in Afghanistan etwas Gutes tun“, sagt Neukam. Und erinnert sich an ihren ersten Einsatz im Jahr 2002. „Ich hatte ein Hurra-Gefühl.“

    Selbst nach den vielen Rückschlägen in den Folgejahren habe sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass in Afghanistan Frieden herrschen könne. „Ich habe lange daran geglaubt. Aber das war wohl naiv“, bekennt sie. „Heute würde ich sagen: Unser Einsatz war vergebens. Wir haben alles versucht. Die Kameradinnen und Kameraden haben ihr Bestes gegeben“, sagt Neukam ernüchtert.

    Und doch sei der Einsatz nicht sinnlos gewesen. „Denn wir haben Dinge bewirkt.“ Die Bundeswehr habe einen Beitrag geleistet, damit eine Generation in Afghanistan aufwachsen konnte, „ohne Angst zu haben“. Dennoch müsste sich Deutschland jetzt mit der Frage auseinandersetzen, welche Auslandseinsätze in Zukunft noch sinnvoll seien und was deutsche Soldaten dort überhaupt bewirken können. „Wenn die Bundeswehr aus dem Afghanistan-Einsatz keine Lehren zieht, war es eine Farce.“

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