Berlin. Die Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissler, hält Deutschland in Teilen für undemokratisch – und fordert umfassende Enteignungen.

Sie ist die jüngste Spitzenkandidatin der Bundestagsparteien: Janine Wissler (40) gilt selbst in ihrer Partei als ziemlich links. Im Interview sagt die Hessin, was sie sich von Enteignungen verspricht - und warum sie Deutschland in der Verantwortung sieht, einen großen Teil der Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen.

Baerbock, Laschet oder Scholz: Wen wünscht sich die Linke im Kanzleramt?

Janine Wissler: Vor allem wünsche ich mir Laschet und die Unionsparteien in der Opposition. Wenn man wirklich etwas verändern will für soziale Gerechtigkeit und für Klimaschutz, dann geht das nicht mit Union und FDP. Wenn SPD und Grüne ihre eigenen Forderungen ernst nehmen, dürfte es weder ein schwarz-grünes noch ein Ampel-Bündnis geben..

Sie wollen also mitregieren.

Wissler: Wir wollen etwas verändern. Wenn wir den Mindestlohn auf 13 Euro erhöhen, die Superreichen ordentlich besteuern, für sozialen Ausgleich sorgen, ein wirksames Klimaschutzgesetz machen und Waffenexporte stoppen können, dann sage ich: Ja, wir wollen regieren. Deutschland braucht einen Politikwechsel. Schluss mit der Politik der verlorenen Zeit.

In den Umfragen ist die Linkspartei der Fünf-Prozent-Hürde gefährlich nahegekommen. Wie erklären Sie sich das?

Wissler: Es war eine schwierige Situation für uns im vergangenen Jahr: Wegen Corona mussten wir zweimal unseren Parteitag verschieben, die personelle Neuaufstellung kam mit Verspätung. Jetzt geht es darum, unsere inhaltlichen Forderungen in den Vordergrund zu stellen.

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Ihre Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow die Beendigung aller Kampfeinsätze der Bundeswehr forderte, aber keinen einzigen korrekt benennen konnte?

Wissler: Wir waren gerade neu gewählt, haben viele Interviews gegeben. Da kann es mal zu einem Blackout kommen.

„Raus aus Afghanistan“ – diese Kernforderung der Linken hat die Bundesregierung erfüllt. Sind Sie jetzt zufrieden?

Wissler: Niemand kann zufrieden sein angesichts der furchtbaren Situation. Wir haben seit Jahren gefordert, die Aufnahme der Ortskräfte zu erleichtern und die Abschiebungen nach Afghanistan zu stoppen. Der Afghanistan-Krieg und der Einsatz der Bundeswehr waren von Beginn an ein Fehler. 20 Jahre später haben wir ein Desaster. Und die Bundesregierung lässt diejenigen, die der Bundeswehr geholfen haben, im Stich.

Der Umgang mit den Ortskräften ist einfach schäbig. Es wäre vor dem Abzug ein leichtes gewesen, Zivilisten vor den Taliban in Sicherheit zu bringen. Aber man hat Warnungen selbst der eigenen Botschaft in den Wind geschlagen. Man muss auch kritisch nachfragen, was der BND gemacht hat und warum das Auswärtige Amt die Situation so falsch eingeschätzt hat. Dieses Agieren der Bundesregierung gefährdet Menschenleben. Sie hat es zu verantworten, dass es viele nicht mehr schaffen werden, Afghanistan rechtzeitig zu verlassen.

Soll die Bundesregierung mit den Taliban zusammenarbeiten, weiter Geld nach Afghanistan überweisen?

Wissler: Es ist eine schwierige Situation. In diesen Tagen muss es darum gehen, erst mal so viele Menschen wie möglich auszufliegen.

Und die Zusammenarbeit mit den Taliban?

Wissler: Meine Sorge ist: Die Taliban sind stärker, als sie vor 20 Jahren beim Einmarsch der Bundeswehr waren – ausgestattet mit westlichem Kriegsgeräte und vermutlich vielen übergelaufenen ausgebildeten Kämpfern der afghanischen Armee. Die Bundesregierung redet ja bereits mit den Taliban über die Evakuierung. In der Entwicklungszusammenarbeit muss im Sinne der Menschen weitergeführt werden, was geht. Hilfsgelder von vornherein pauschal zu streichen halte ich für falsch. Die Taliban sind grausam, wir dürfen nicht die Menschen im Stich lassen, die unter den Taliban und der humanitären Situation leiden.

So viele Menschen wie möglich ausfliegen – was meinen Sie damit?

Wissler: Es darf nicht sein, dass eine Militärmaschine der Bundeswehr vom Flughafen in Kabul mit sieben Passagieren abhebt – ohne einen afghanischen Staatsbürger an Bord. Wir sollten jeden retten, den man retten kann. Dabei geht es zum einen um die Ortskräfte, die in den vergangenen 20 Jahren für die Bundeswehr, die deutsche Botschaft oder die Entwicklungsorganisation GIZ gearbeitet haben.

Und zum anderen um die besonders gefährdeten Gruppen in der afghanischen Gesellschaft wie Frauenrechtlerinnen oder Menschenrechtsaktivisten. Wir müssen so viele retten wie möglich. Nach dem Motto: Erst retten und dann fragen, nicht umgekehrt. Wenn die Bundesregierung Menschen wegen bürokratischer Hürden zurücklässt, macht sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.

Innenminister Seehofer rechnet damit, dass bis zu fünf Millionen Menschen das Land verlassen wollen. Wie viele davon soll Deutschland aufnehmen?

Wissler: Es ist zu befürchten, dass nur sehr wenige das Land überhaupt verlassen können. Als reichster Staat in der Europäischen Union muss Deutschland natürlich einen großen Teil dieser Menschen aufnehmen, die jetzt aus Afghanistan kommen. Kapazitäten dafür sind vorhanden. Mehr als 250 Kommunen in der Bundesrepublik haben sich zum sicheren Hafen erklärt, werden aber von diesem schrecklichen Bundesinnenminister daran gehindert, Geflüchtete aufzunehmen.

Die Länder und Kommunen sollten endlich die Erlaubnis bekommen, die Hilfe zu leisten, die sie leisten wollen. Ich würde auch mir wünschen, dass es eine europäische Lösung gäbe. Aber wir können nicht auf eine europäische Lösung warten. Sonst wird jegliche Aufnahme von Geflüchteten blockiert. Deutschland trägt eine Mitverantwortung für das Drama in Afghanistan. Jetzt muss gehandelt werden.

Frau Wissler, bis vor kurzem waren Sie Mitglied der Gruppierung Marx 21, die vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft wird. Sind Sie eine lupenreine Demokratin?

Wissler: Na, der Ausdruck ist doch verbrannt. Natürlich bin ich Demokratin. Ich wünsche mir doch, dass die Gesellschaft noch viel demokratischer wird. Übrigens ist die die Einschätzung des sogenannten Verfassungsschutzes für mich kein Maßstab. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das bis vor nicht allzu langer Zeit von dem rechten Verschwörungsideologen Hans-Georg Maaßen geführt wurde, schützt nicht die Verfassung.

Marx 21 setzt auf Massenbewegungen, die bereit und in der Lage sind, „die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokratie zu ersetzen“. Unterschreiben Sie diesen Satz?

Wissler: Ich bin nicht die Sprecherin von Marx 21.

Aber Sie waren prägendes Mitglied. Halten Sie die Bundesrepublik Deutschland für undemokratisch?

Wissler: Wir haben eine unvollständige Demokratie. Es gibt Bereiche, die sehr undemokratisch sind.

Die wären?

Wissler: Schauen Sie sich an, wie Gesetzgebungsverfahren beeinflusst werden. Es ist doch undemokratisch, dass die kleine Erwerbsloseninitiative ohne Geld und PR-Abteilung viel weniger Einfluss auf die Ausgestaltung von Gesetzen hat als große Konzerne, die teilweise sogar Schreibtische in den Ministerien haben. Dieser ganze Lobbyismus ist absolut undemokratisch.

Deshalb wollen Sie die Konzerne enteignen?

Wissler: Ich will die Demokratie weiterentwickeln. Die gesamte Daseinsvorsorge gehört wieder in öffentliche Hand und unter öffentliche Kontrolle. Sie mögen das Enteignung nennen. Ich sage: Die Existenz großer Immobiliengesellschaften beruht auf der andauernden Enteignung der Mieterinnen und Mieter. Es gab einen Ausverkauf von Wohnungsgesellschaften und Häusern, die der öffentlichen Hand gehört haben und aus Steuergeldern errichtet wurden.

Wenn Sie „die herrschende Klasse“ enteignen wollen – wen zählen Sie noch dazu?

Wissler: Es geht um die öffentliche Daseinsvorsorge, die großen Immobilienkonzerne. Kein Hausbesitzer, der irgendwo ein Mietshaus hat, muss sich Sorgen machen. Es geht um Kapitalgesellschaften, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen. Außerdem finde ich, dass private Krankenhaus- und Pflegekonzerne zurück in die öffentliche Hand gehören, ebenso wie der Öffentliche Personennahverkehr. Das sind die Bereiche, die mir da als erstes einfallen. Und wenn ich mir überlege, dass es Menschen gibt, die im Besitz von Milliardenvermögen sind…

…. dann möchten Sie die auch enteignen.

Wissler: Nein, stärker besteuern. In der Corona-Krise sind einige sogar noch reicher geworden. Es gab in Deutschland im letzten Jahr 70.000 neue Millionäre. Daher fordern wir die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Vermögensabgabe.

Nach dem Vorbild der Nachkriegszeit? Die Regierung Adenauer hat alle Vermögen über 5000 D-Mark mit einer Abgabe von 50 Prozent belastet.

Wissler: Das Modell ist gut, wir wären da heute aber großzügiger. Die ersten zwei Millionen wollen wir freistellen, die dürfen die Leute behalten. Erst den Betrag, der über zwei Millionen liegt, würden wir mit einer gestaffelten Vermögensabgabe belegen - beginnend mit zehn Prozent.

In der nächsten Folge sprechen wir mit Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.