Berlin. In der Türkei werden die Migranten zum Spielball der Innenpolitik. Zunächst hilfsbereit aufgenommen, sehen sie jetzt viele als Gefahr.

Etwa vier Millionen Flüchtlinge beherbergt die Türkei, mehr als jedes andere Land. Offiziell gelten sie als „Gäste“. Aber niemand hat sie eingeladen, und sie machen keine Anstalten, wieder zu gehen. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Staatschef Recep Tayyip Erdogan kommt in der Flüchtlingspolitik unter Druck – nicht nur seitens der Opposition, sondern auch im eigenen Lager.

Tanju Özcan, Bürgermeister der nordwesttürkischen Stadt Bolu, weiß, wie man die Flüchtlingsfrage lösen kann: Der Lokalpolitiker will die Wassertarife und Müllgebühren für Migranten um das Zehnfache erhöhen. „Wir waren viel zu lange gastfreundlich“, sagt Özcan – mit dem Ergebnis, dass „die Türkei eine Deponie für Flüchtlinge geworden ist“.

Flüchtlinge in der Türkei: Unmut wächst

Die Justiz ermittelt jetzt gegen den Kommunalpolitiker wegen „Volksverhetzung“, und seine Partei, die oppositionelle CHP, ging auf Distanz. Aber in den sozialen Medien bekommt der Bürgermeister auch Applaus. Auf Facebook, Instagram und Twitter artikuliert sich in der Türkei wachsender Unmut über die Flüchtlinge.

Fernsehbilder zeigen, wie ganze Kolonnen von Schutzsuchenden auf ihrer Flucht aus Afghanistan über den Iran auf schmalen Pfaden die Grenze zur Türkei überqueren. Andere verstecken sich in Fernlastern oder den Gepäckfächern von Überlandbussen. Etwa 500.000 afghanische Migranten leben bereits in der Türkei. Nach inoffiziellen Schätzungen kommen derzeit täglich weitere 1000 bis 1500 Afghanen ins Land.

Auf Twitter verglich jemand die Bilder mit einer „Insektenplage“ und fragte: „Würdet Ihr keine Vorkehrungen treffen, wenn Ungeziefer in euer Haus eindringt?“ Journalisten und Bürgerrechtler, die sich für die Flüchtlinge einsetzen, werden in den sozialen Medien als „Verräter“ angefeindet.

Zunächst waren die Menschen sehr hilfsbereit

Auch wenn sich die CHP von Bürgermeister Özcan distanzierte: Die Partei hat das Migrationsthema längst entdeckt. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sieht darin eine „Überlebensfrage“ für sein Land. Der Oppositionsführer verspricht, er werde alle Flüchtlinge „innerhalb von zwei Jahren nach Hause schicken“, wenn er an die Regierung kommt. Bezahlen soll für die Rückführung Europa. „Niemand hat das Recht, mein Land zu einem Flüchtlingsgefängnis zu machen“, sagte Kilicdaroglu an die Adresse der EU.

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    Nicht nur die Opposition macht in der Flüchtlingspolitik Druck auf Staatschef Erdogan. Auch dessen Koalitionspartner, der Ultra-Nationalist Devlet Bahceli, meldet sich zu Wort. In einem Interview mit der Zeitung „Türkgün“ warnte Bahceli jetzt vor „Risiken und Gefahren“, die mit dem Zustrom der afghanischen Migranten auf die Türkei zukämen. „Wir müssen wachsam sein“, sagte Bahceli. Er sei „im Prinzip dafür“, ausländische Migranten „in einer geordneten und friedlichen Weise in ihre eigenen Länder zurückzuschicken“.

    Als 2011 nach dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges die ersten Flüchtlinge aus dem Nachbarland in die Türkei strömten, begegnete man ihnen dort überwiegend mit großer Hilfsbereitschaft. Auch die Regierung in Ankara erwartete, dass die Flüchtlinge nach einem raschen Ende der Kämpfe in ihre Heimat zurückkehren würden.

    Viele Afghanen wollen weiter nach Europa reisen

    Syrer haben in der Türkei keinen Anspruch auf Asyl, sondern genießen als „Gäste“ einen vorübergehenden Schutzstatus. Längst haben die meisten aber Wurzeln in der Türkei geschlagen. In der Grenzprovinz Hatay beträgt der Anteil der Syrer an der örtlichen Bevölkerung 21 Prozent, in der Nachbarprovinz Kilis sind es sogar 43 Prozent.

    Inzwischen sehen viele Türken in den einst bereitwillig aufgenommenen Gästen unwillkommene Konkurrenten im Wettbewerb um Arbeitsplätze. Das gilt angesichts steigender Arbeitslosenzahlen vor allem für jene Afghanen, die jetzt über den Iran in die Türkei kommen. Die meisten von ihnen versuchen, in der Schattenwirtschaft einen Gelegenheitsjob zu finden – in der Hoffnung, genug Geld für die Weiterreise nach Europa zu sparen. Die Zuwanderung afghanischer Migranten in die Türkei dürfte sich daher mit einiger Verzögerung auch an den Grenzen zu Griechenland und Bulgarien bemerkbar machen.