Paris. 20 Tote im Elternkreis einer einzigen Schule ändern nichts am Pandemie-Kurs. Die Bildung hat in Frankreich weiter höchste Priorität.

„Ich werde mein Bestes tun“, hatte Grace L. ihrem Vater gelobt, der sehr stolz darauf war, dass sie den Sprung an die Oberstufe ihres Gymnasiums geschafft hatte und das Abitur machen wollte. Ihr Versprechen machte Grace im Krankenhaus, wo der Vater im April 2020 dem Coronavirus erlag. Damals hatte die 16-Jährige Distanzunterricht, weil alle Schulen in Frankreich während der ersten Epidemiewelle geschlossen waren.

Als Grace im Mai 2020 in ihre Klasse am Lycée Eugène Delacroix der Pariser Vorstadt Drancy zurückkehren konnte, wollte sie zunächst nicht über den Tod des Vaters sprechen. Als sie es dann doch tat, erfuhr sie, dass auch der Vater einer Klassenkameradin an Covid-19 verstorben war. Ein Jahr später haben nun bereits 20 Schüler dieser Bildungseinrichtung ein Elternteil verloren, die meisten fielen der zweiten oder dritten Epidemiewelle zum Opfer. Einige Kinder haben Angst, zur Schule zu gehen, weil sie sich sorgen, das Virus mit nach Hause zu bringen und Angehörige anzustecken.

Corona: Schule schreibt offenen Brief an Macron

Ende März machte das Lycée Eugène Delacroix Schlagzeilen. In einem offenen Brief an Staatspräsident Emmanuel Macron forderte das gesamte Lehrpersonal die sofortige Schließung ihrer Schule, an der 54 Jugendliche sowie 20 Lehrer in den Tagen zuvor positiv getestet worden waren.

In dem Schreiben wiesen sie auf die zahlreichen Familiendramen hin, die sich an der Schule ereignet hatten, und protestierten gegen die „Doktrin“ des Erziehungsministers, die Schließung von Kitas, Grund- sowie weiterführenden Schulen selbst in Regionen vermeiden zu wollen, in denen die Zahl der Neuinfektionen in die Höhe schnellt. Ist der Preis der geöffneten Schulen zu hoch?

Macron hatte Erziehung zur „absoluten Priorität“ erklärt

Tatsächlich sind Frankreichs Schulen nur während des ersten von drei Lockdowns geschlossen worden. Während des zweiten und dritten Lockdowns gab es nur eine Verlängerung der Osterferien um eine Woche. Und es war nicht der Erziehungsminister, sondern Macron, der die Erziehung zur „absoluten Priorität“ erklärt hatte. Bis zum Frühjahr galt die Regel, dass allein einzelne Klassen geschlossen wurden, wenn sich mindestens drei Schüler angesteckt hatten.

Jetzt wird der Präsenzunterricht ausgesetzt, wenn ein Schüler positiv getestet wurde. Die französische Regierung ist stolz darauf, dass der Unterricht an den Schulen des Landes trotz Corona weitestgehend aufrechterhalten wurde – im Gegensatz zu den Schulschließungen in vielen übrigen europäischen Ländern. „Es geht um unsere Kinder und somit um unsere Zukunft“, sagt Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer.

Erster Lockdown: Kontakt zu vielen Schülern verloren

Er weiß, dass die große Mehrheit der Pädagogen und Franzosen hinter ihm steht. Ein Konsens, der den schlechten Erfahrungen mit dem Distanzunterricht während des ersten Lockdowns geschuldet ist, als die Lehrer den Kontakt zu vielen Schülern aus den sozial schwächeren Schichten teilweise verloren hatten. Der Protestbrief der Lehrer des Lycée Eugène Delacroix ist bislang ein Einzelfall geblieben. Zumal umstritten bleibt, ob die vielen Todesfälle im Elternkreis der Schüler dieses Gymnasiums auf dessen Nichtschließung zurückzuführen sind.

Drancy liegt im Departement Seine-Saint-Denis, wo die Zahl der Neuinfektionen stets deutlich über dem Landesschnitt lag. Laut der Präfektur gelten Ansteckungen außerhalb der Schulen „hier wie anderswo“ als „ungleich wahrscheinlicher“ als das Gegenteil. Es kommt hinzu, dass 20 Todesfälle in einer Gemeinde mit 72.000 Einwohnern und angesichts einer französischen Corona-Opferbilanz, die mittlerweile die 100.000 überschritten hat, kaum ins Gewicht fallen.

Lockerungen in Frankreich trotz hoher Inzidenz

Selbst wenn Frankreich mit einer Inzidenz, die nur knapp unter 200 liegt, aus deutscher Sicht ein Risikogebiet bleiben mag, hat Macron nun eine Lockerung der Einschränkungen in vier Etappen angeordnet. Seit dem 3. Mai entfiel die Regel, der zufolge man sich nicht weiter als zehn Kilometer von seinem Wohnsitz entfernen durfte. Die Ausgangssperre ab 19 Uhr gilt zwar weiterhin, soll aber kommende Woche auf 21 Uhr, später auf 23 Uhr verschoben werden.

Mit der zweiten Etappe ab dem 19. Mai dürfen auch Museen, Kinos, Theater und die Terrassen der Cafés und Restaurants wieder öffnen. In weiteren Schritten erfolgen bis Ende Juni der Wegfall der Ausgangssperre sowie die Zulassung von Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern. Nur die Abstandsregeln werden beibehalten. Allerdings bleibt eine „sanitäre Notbremse“ vorgesehen, wenn Regionen eine Inzidenz von über 400 aufweisen oder Intensivstationen überlastet sind.