Berlin. Der Name der Widerstandskämpferin Sophie Scholl wird zunehmend von „Querdenkern“ instrumentalisiert. Ihr Neffe spricht von Missbrauch.

„Sobald ich allein bin, verdrängt eine Traurigkeit jede Lust zu einer Tätigkeit in mir. Wenn ich ein Buch zur Hand nehme, dann nicht aus Interesse, sondern so, als ob es ein anderer täte. Über diesen entsetzlichen Zustand kann nur eines helfen. Die schlimmsten Schmerzen, und wären es bloß körperliche, sind mir tausendmal lieber als diese leere Ruhe.“

Das ist einer von Sophie Scholls letzten Tagebucheinträgen vom 13. Januar 1943, fast fünf Wochen vor ihrer Ermordung durch die Nationalsozialisten. Ihre Worte sind Zeugnis von Verzweiflung, aber auch eine Ankündigung für das, was vor ihr lag.

Sie gehörten zur Widerstandsgruppe Weiße Rose, die sich gegen die NS-Diktatur wehrte: Die Studenten Hans Scholl, Christoph Probst und Sophie Scholl.
Sie gehörten zur Widerstandsgruppe Weiße Rose, die sich gegen die NS-Diktatur wehrte: Die Studenten Hans Scholl, Christoph Probst und Sophie Scholl. © George (Jürgen) Wittenstein / a | George (Jürgen) Wittenstein / akg-images

Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Scholl gehörte sie zur Widerstandsgruppe Weiße Rose. Die Studenten schrieben Texte und druckten Flugblätter, darin prangerten sie die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes an und riefen zum Widerstand auf. Sie verfassten sechs Flugblätter, die letzte Auflage verteilten die Geschwister Scholl am Morgen des 18. Februar 1943 in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

Sie liefen um 10.50 Uhr durch den Haupteingang, legten die Blätter vor den Hörsälen ab und Sophie ließ den Rest über die Brüstung im zweiten Stock in den Lichthof der Universität herabfallen. Ein Hörsaaldiener hinderte die beiden an der Flucht. Die Gestapo nahm sie fest.

Sophie Scholl: Hinrichtung und Tod unterm Fallbeil

Zusammen mit Christoph Probst, der ebenfalls zur Weißen Rose gehörte, wurden sie von den nationalsozialistischen Richtern zum Tode verurteilt. Am 22. Februar 1943 wurde das Urteil mit dem Fallbeil vollstreckt.

Bis heute gelten die Geschwister Scholl als bekannteste Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime innerhalb Deutschlands, darüber hinaus symbolisieren sie unerschütterliche Moral, Mut und Opferbereitschaft. Sophie Scholl war die einzige Frau der Weißen Rose. 60 Jahre nach ihrer Hinrichtung wurde sie 2003 mit einer Büste in die Ruhmeshalle Walhalla in Donaustaufen aufgenommen. Lesen Sie auch: Sophie Scholl auf Instagram – Ihre letzten Monate in Echtzeit

Mittlerweile ist Sophie Scholl wohl einer der beliebtesten Heldenfiguren der Deutschen. In der ZDF-Sendung „Unsere Besten – Die größten Deutschen“ wurde sie im Jahr 2003 von den Zuschauern nach Konrad Adenauer, Martin Luther und Karl Marx zusammen mit ihrem Bruder auf den vierten Platz gewählt. Kein Wunder also, wenn sich viele Menschen an Sophie Scholl orientieren und gern so mutig und integer wären wie sie.

Das fängt bei der aktuellen Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock an, die Scholl gerade im „FAZ“-Steckbrief eine ihrer „Heldinnen in der Geschichte“ nannte, und hört nicht bei „Jana aus Kassel“ auf, der jungen Frau, die im November 2020 medienwirksam in Hannover auf einer „Querdenker“-Bühne erklärte, sie fühle sich wie Sophie Scholl.

Auch die AfD warb immer wieder mit der Widerstandsikone, erklärte auf Plakaten, dass Sophie Scholl ihr Kreuz heute bei der AfD machen würde, und schob ihr sogar ein frei erfundenes Zitat zu.

Neffe von Sophie Scholl: Das ist „Missbrauch“

Jörg Hartnagel ist der Neffe von Sophie Scholl - Sohn der jüngeren Scholl-Schwester Elisabeth und Scholls Jugendfreund Fritz Hartnagel. Hartnagel und Elisabeth heirateten im Oktober 1945. Die beiden bekamen vier Söhne. Der Zweitälteste lehnt solche Vereinnahmungen seiner Tante wie von „Jana aus Kassel“ ab: „Das ist eine missbräuchliche Benutzung des Namens von Sophie Scholl.“

Jörg Hartnagel, Neffe von Sophie Scholl
Jörg Hartnagel, Neffe von Sophie Scholl © Privat | Privat

Jörg Hartnagel ist heute 71 Jahre alt, früher war er Kunstlehrer. Mit der Hinrichtung seiner Tante und seines Onkels sei er aufgewachsen, erzählt er. „Für meine Mutter Elisabeth war es eine traumatische Erfahrung, die sie ihr ganzes Leben lang begleitete.“

Dass seine Eltern trotz der Nähe zu Hans und Sophie Scholl nicht im Widerstand waren, betont er: „Es war ihnen sehr wichtig, dass im Nachhinein eindeutig bleibt, dass alle Achtung, Respekt und auch Trauer allein den Geschwistern Scholl gebührt. Meine Eltern wollten nie davon profitieren oder sich in den Vordergrund stellen.“ So habe er es sein Leben lang selbst gehalten und sich nur selten zu seiner Verwandtschaft geäußert. Doch bei den „Querdenkern“ könne er nicht schweigen. Lesen Sie hier: Schauspieler Volker Bruch stellt Mitgliedsantrag bei Protest-Partei

„Mit solchen Spinnern wie ,Jana aus Kassel‘ will ich nichts zu tun haben“, sagt er. Die Taktik dieser rechten Organisationen sei eindeutig: „Sie versuchen den eigenen Nazi-Geruch loszukriegen und sich in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren.“

“Sophie Scholl bleibt ein Stachel im Fleisch der Deutschen“

Hildegard Kronawitter, Geschäftsführerin der Stiftung Weiße Rose e. V., hält den 100. Geburtstag von Sophie Scholl für eine Chance: „Es kann ein Anlass sein, sich mit der Biografie von Sophie Scholl zu befassen. Um nachzuvollziehen, welche Werte sie geprägt haben.“ Daran lasse sich lernen, wie verführerisch und schrecklich die NS-Diktatur gewesen sei. „Und verstehen, wie sie zu so einer eigenständigen und mutigen Frau geworden ist“, meint Kronawitter.

Christoph Heubner, geschäftsführender Vizepräsident des Internationales Auschwitz Komitee e.V., wird bei der Beschreibung von Sophie Scholl besonders deutlich: „Sie bleibt ein Stachel im Fleisch der Deutschen.“ Überlebende des Holocaust würden in dieser jungen Frau bis heute „eine der ganz wenigen Persönlichkeiten sehen, die während der Nazi-Jahre die Würde aller Menschen verteidigt hat.“ Auch interessant: Nazi-Jäger auf der Suche nach der Frau, die Babys tötete

Dass heute Menschen in Deutschland ihre Lebenssituation und ihre angebliche Bedrohungslage mit der von Sophie Scholl vergleichen, sei für Überlebende des Holocaust „ein Gräuel und eine egozentrische Anmaßung.“

Am Ende der Vernehmung, die zur Hinrichtung führte, wird Sophie Scholl vom Gestapo-Kriminal-obersekretär gefragt, ob sie einsehe, dass sie ein Unrecht getan habe, „das die schärfste Verurteilung finden muss“. Sie antwortete laut Vernehmungsprotokoll: „Von meinem Standpunkt muss ich diese Frage verneinen. Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“ Sophie Scholl wurde 21 Jahre alt.