Rostock. Die Stadt hat seit Monaten niedrige Inzidenzen. Rostock öffnet Stadion, Theater und Geschäfte. An der Spitze — ein ehrgeiziger Däne.

Noch ist Ruhe. Eine Frau huscht über die glatten Fliesen durch die Gänge. Eigentlich ist sie Grafikerin im Haus. Jetzt bastelt sie Hinweisschilder, in schwarz, weiß und blau: „Herzlich willkommen! Zutritt und Aufenthalt im Theater nur möglich mit medizinischer Maske.“

Bei der Garderobe haben die Bühnenbauer fünf Nischen aus schwarzem Holz und Stoff aufgestellt, Corona-Testkabinen. Morgen soll es losgehen, Premiere am Volkstheater in Rostock. Mit Publikum. Das erste Mal seit Monaten.

Laute Musik, volle Bühne – Proben mit Corona-Schutzkonzept

Regelmäßige Schnelltests und Schutzkonzept machen Proben am Volkstheater Rostock seit Monaten schon möglich
Regelmäßige Schnelltests und Schutzkonzept machen Proben am Volkstheater Rostock seit Monaten schon möglich © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Im Proberaum schallt laute Musik aus den Lautsprechern, Gitarren und Fanfaren. Auf der Bühne sitzt Luis Quintana auf einem Stuhl, ruckartig hebt er seine Hände, wühlt sich durch die Haare, alles im Rhythmus der Musik. Er übt für das neue Stück „Fräulein Julie“.

Am Ende dieser Woche wird Quintana auch den Lehrer in Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ spielen. 100 Zuschauer werden applaudieren, vier Fünftel nur ist der Saal gefüllt. Bevor der Vorhang aufgeht, werden alle Gäste auf Corona getestet, tragen Maske, halten eine Sitzreihe und einige Plätze Abstand zueinander. Theater im Corona-Modus.

„Die Menschen sind hungrig auf Kultur“, sagt der 33 Jahre alte Quintana. „Auf ein gemeinsames Erlebnis in einem gemeinsamen Raum. Die Menschen merken in der Pandemie, dass Theater auch ein Lebensmittel ist.“ Was noch fehlt für das Festmahl, ist die Genehmigung des Gesundheitsministers von Mecklenburg-Vorpommern. Kippt die Premiere im letzten Moment?

Rostock als Vorbild für Deutschland – wie kann ein neuer Alltag aussehen?

Rostock ist Deutschlands Testlabor. Dafür, wie eine neue Normalität in der Pandemie aussehen kann. Kaum eine deutsche Stadt hat so niedrige Inzidenzwerte wie die Hansestadt. Im Rathaus betonen sie stolz, dass Rostock nur an einem einzigen Tag mehr als 50 Ansteckungen pro Woche und einhunderttausend Einwohner hatte — in dem ganzen Pandemie-Jahr.

Sonst lag der Wert darunter, über Wochen weit unter 30. Jetzt nur knapp darüber. Wenn Orte in Thüringen oder Sachsen Deutschland Corona-Hotspots sind, dann ist Rostock, das lässt sich gewiss sagen, Deutschlands Corona-Coldspot.

Aber auch der Coldspot Rostock wird heißer. Die Ansteckungen steigen. Auf niedrigem Niveau, aber deutlich. Deutschland starrt mit einem angstvoll aufgerissenen Auge auf die dritte Virus-Welle — und blinzelt doch mit dem anderen auf den Rostocker Weg. Geht das gut? Offene Geschäfte in der Fußgängerzone, Fans im Stadion, Zuschauer vor der Theater-Bühne – und das mit der britischen Mutante.

Die erste Vorstellung seit Dezember vor Publikum

Ralph Reichel ist Intendant am Volkstheater, und ruft gerade die Gesundheitsbehörde an. Sie wollen für die Premiere eigenes Personal schicken, das die Zuschauer testet. Nichts soll mehr schiefgehen. Seit Dezember gab es keine Vorstellung mehr. „Seit Monaten nehmen wir immer wieder Anlauf für eine neue Premiere — und können am Ende doch nicht abspringen“, sagt Reichel.

Der Intendant sagt, er habe diesmal ein gutes Bauchgefühl. Ein großer Saal, eine moderne Lüftung, nur 100 Leute. „Das ist fast wie Open Air.“ Vor der Premiere hat Reichel mit seinem Schauspieler Quintana abends telefoniert. Reichel leitet ein Theater, aber seit Monaten muss er Corona-Krisenmanager sein. Und Motivator.

Trotz steigender Inzidenzen – „gutes Bauchgefühl“. Ralph Reichel, Intendant am Rostocker Volkstheater
Trotz steigender Inzidenzen – „gutes Bauchgefühl“. Ralph Reichel, Intendant am Rostocker Volkstheater © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Die Generalprobe war wichtig für die Schauspieler, sie war aber auch eine Probe für den Corona-Alltag mit Zuschauern. „Wir mussten schauen, ob wir für die digitale Registrierung der Corona-Tests genügend Tablets und Personal einsetzen, und ob das WLAN im Foyer ausreicht und vieles mehr“, sagt Intendant Ralph Reichel. Nun braucht er nur noch die Zusage vom Minister.

Hansa Rostock spielt erstmals wieder vor Fans – 700 sehen den Heimsieg

Uwe Schröder, ein Mann mit langen Koteletten und wuchtigem Bauch, hatte schon Premiere. Er geht am Rasen entlang, vor den Tribünen, wo am Wochenende gut 700 Fansvom FC Hansa Rostock einen Heimsieg gegen Halle feierten.

Schröder hat schon viel erlebt mit diesem Verein, in diesem Stadion, das er 1969 zum ersten Mal betreten hat, als Neunjähriger mit seinem Vater, und in dem er die großen Momente der Mannschaft bejubelt hat, wie, Anfang der Neunziger, als die Hansa den FC Barcelona im Pokal der Landesmeister schlägt.

Die Pandemie ist für Schröder meist eine Zeit beklemmender Ruhe in der Kurve.

Seit 1969 im Stadion: der Fanbeauftragte von Hansa Rostock, Uwe Schröder.
Seit 1969 im Stadion: der Fanbeauftragte von Hansa Rostock, Uwe Schröder. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Schröder ist Fanbeauftragter des Drittligisten. Als Corona es schaffte, selbst den Fußball in Deutschland in die Knie zu zwingen, zeigten die Fans ihre Solidarität mit der Mannschaft. Sie kauften den Online-Fanshop leer, investierten in Jahreskarten, obwohl niemand wusste, ob das Stadion überhaupt ein Spiel mit Fans erleben würde.

Keine Choreo, keine lauten Gesänge – aber Hoffnung

Am Wochenende durften dann 777 kommen. Nur Rostocker. Auch hier testete der Verein die Fans am Eingang, auf der Tribüne saßen sie mit Abstand und Maske. Die Stimmung, sagt Schröder, sei okay gewesen. Keine Choreografie, keine Massen mit Hansa-Schals über den Köpfen. Aber immerhin 700 Fußballfans mit Hoffnung im Herzen.

Wie überhaupt hat Rostock das hinbekommen? Manche witzeln, der steife Ostseewind habe das Virus weggepustet. Andere sagen: dieses nordische Gemüt; man halte hier auch ohne Pandemie schon Abstand zueinander. Wieder andere sagen: Rostock liegt günstig. Im Nordost-Zipfel der Republik, isoliert, kein Pendlerverkehr wie in Hannover oder Mainz.

Experten nähern sich dem „Phänomen Rostock“ an. Und ganz Deutschland sucht Antworten auf dieses Phänomen bei Claus Ruhe Madsen, Oberbürgermeister. Madsen ist Däne, groß, trägt Wikingerbart, Pullover, kantige Brille, Undercut-Haarschnitt, ist 48 Jahre alt. Ein etwas in die Tage gekommener Hipster in der altehrwürdigen Koggestadt.

Madsen war lange Unternehmer – und so führt er auch die Stadt

Lange war Madsen Unternehmer, führte ein Möbelgeschäft, stand der Handelskammer in Rostock vor. Erst seit 2019 ist er Bürgermeister. Und so führt er auch sein Amt: mehr wie ein Start-Up-Unternehmen, weniger wie ein Staatsmann.

Wer sein Büro betritt, trifft gleich auf ein großes schwarzes Emblem im Vorzimmer: Smile City. Das ist Madsens Vision für Rostock, ein Mini-Kopenhagen in MeckPomm, kinderfreundlich, fahrradfreundlich, lebensfreundlich. Grün und digital.

So will er auch durch die Pandemie kommen: mit Begeisterung, sagt er. Doch eigentlich lag Rostocks Erfolg im Kampf gegen Corona vor allem in schnellen und harten Verboten. Mitte März 2020 sagt Madsen ein großes Popkonzert mit 5000 Zuschauern in letzter Minute ab, die Proben liefen schon. Rostock lässt als erste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern Schulen und Kitas schließen. Im Herbst macht Madsen die Glühwein-Stände dicht, als die Inzidenzen steigen.

Rostock hat auch Glück – und liegt geografisch günstig

Ein Däne in Deutschland – mit seinem Corona-Krisenmanagement wird er gerade zum Medienstar. Eilt von Interview zu Talkshow.
Ein Däne in Deutschland – mit seinem Corona-Krisenmanagement wird er gerade zum Medienstar. Eilt von Interview zu Talkshow. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Aber Madsen hat auch Glück. Vor seiner Haustür hat ein weltweit agierendes Bio-Tech-Unternehmen seinen Sitz. Als Corona über Deutschland bricht, kooperiert er mit dem Konzern. Die Firma entdeckt Rostock als Aushängeschild für ihre Unternehmens-Vita, und stellt kostenlos Schnelltests bereit, als sich die Behörden andernorts noch über Zulassungen beugen.

Heute testet Rostock zweimal in der Woche Schüler, auch ohne Symptome. Doch auch der Coldspot Rostock hat Risiken: Wo die Ansteckungen niedrig sind, da sorgen sich die Menschen nicht mehr so sehr vor dem Virus. Und wo die Tests zahlreich sind, da ist auch die Sorge, bei einem positiven Ergebnis zwei Wochen in Quarantäne eingesperrt zu sein.

Viele Geschäfte, das Theater, das Hansa-Stadion — sie alle arbeiten in Rostock nicht nur mit Schnelltests, sondern auch mit der „Luca-App“. Die Software für das Handy soll den Alltag erleichtern. Wer shoppen geht, scannt am Laden die App. Wer ins Stadion geht auch. Die App weiß, wer wann wo unterwegs ist. Und das macht es für das Gesundheitsamt leicht, Kontakte im Fall eines Corona-Ausbruchs zu verfolgen. Auf dem Wochenmarkt von Rostock schwärmt sogar eine Rentnerin von der App.

Man könnte Madsen für einen Blender halten – aber er hat geliefert

Auch an der weißen Holztür zu Madsens Bürgermeisterbüro kann sich der Besucher mit der Luca-App registrieren. Sein Büro heißt „Brücke“, das Arbeitszimmer „Maschinenraum“. Madsens Politik klingt oft wie gutes Marketing. Er erzählt von seiner Art zu regieren gerne in Geschichten.

So zum Beispiel: Vor fünf Millionen Jahren hätten die Menschen in Höhlen gelebt. Irgendwann seien dann mutige Menschen nach draußen getreten. Die, die blieben, sagten sich nach einer Zeit: Schaut, gut, dass wir geblieben sind — die Männer sind nie zurückgekehrt. Madsen sagt: „Man kann diese Geschichte aus zwei Perspektiven sehen.“ Aus der Höhle. Oder aus der Freiheit.

Man könnte Madsen für einen Blender halten, für einen, der die Stadt vor allem als seine Spielwiese betrachtet, auf der Parlamentsdebatten und Bund-Länder-Sitzungen nur Dammmauern der Demokratie in seinem Regierungs-Flow wären. In seinem Smile-City-Start-Up.

So hätte die Geschichte enden können. Doch Madsen hat geliefert. Sogar die Kanzlerin verweist in ihren Reden auf auf Rostock.

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Wie viel ist die Öffnung mit viel Aufwand wert? Wenig, sagen manche Einzelhändler

Aber was ist die langsame Öffnung unter sehr hohem Aufwand wert? Viel für Schauspieler wie Quintana. Viel für Fans wie Schröder. Wenig für Einzelhändlerinnen wie Ines. Sie steht vor ihrem Modegeschäft in der Rostocker Fußgängerzone und hält sich für veräppelt.

Trotz offenen Ladentüren ist ihr Handel eingebrochen. Normalerweise wäre jetzt hier Ostermarkt. Der aber ist nicht erlaubt. Es spazieren an diesem Mittwoch viele Passanten nur vorbei, die meisten Geschäfte sind leer. Und sowieso dürfen nur Rostocker bei Ines einkaufen.

Einzelhändlerin Ines (l.), Freundin Nicole. Sie zweifeln am Erfolg der Strategie, halten die Maßnahmen für ungerecht und wenig effektiv.
Einzelhändlerin Ines (l.), Freundin Nicole. Sie zweifeln am Erfolg der Strategie, halten die Maßnahmen für ungerecht und wenig effektiv. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Neben ihr steht ihre Freundin Nicole. Sie hat bis vor Kurzem auch in der Einkaufsstraße gearbeitet. Shoppen darf sie hier nicht, weil sie 13 Kilometer von Rostock entfernt wohnt. Ein gelockertes Leben führt in Rostock nur, wer die richtige Postleitzahl hat. Und Ines hat keine Kunden, muss aber trotzdem im Laden stehen.

„Jeder möchte gerne 100-Prozent-Lösungen. Aber das klappt in der Pandemie nicht“

Weil Bürgermeister Madsen selten schweigt, hat er auch für die Einzelhändler eine Antwort. „Jeder möchte gerne 100-Prozent-Lösungen. Aber das klappt in der Pandemie nicht.“ Madsens Corona-Strategie ist: schnell und hart schließen, um schnell wieder zu öffnen. Nach einem vorher festgelegten Stufenplan. Wenn Madsen den Leuten etwas versprechen will, sagt er, dann ist das Planbarkeit.

Am Ende des Gesprächs summt Madsens Handy. Das Theater schickt eine Nachricht. Das Ministerium habe die Premiere bewilligt, morgen abends geht es los. Und ob er nicht als Ehrengast kommen möchte? Madsen antwortet, er schaue sich gerne die Tests der Zuschauer im Foyer an. Eine Platz für den Saal wolle er aber den Zuschauern nicht wegnehmen.