Berlin. Deutschland hat sich beim Aussetzen der Astrazeneca-Impfungen nicht mit Ruhm bekleckert. Hätte das Chaos verhindert werden können?

Die EMA hat gesprochen. Astrazeneca darf weiter verimpft werden. Das ist eine gute und schlechte Nachricht. Positiv daran ist, dass das dringend benötigte Vakzin nun weiter dabei helfen wird, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zu vermeiden. Schlecht ist, dass der Impfstoff durch den hektisch herbeigeführten Notstopp an Vertrauen eingebüßt hat. Die nationalen Alleingänge beim Aussetzen der Astra-Impfungen dürften Millionen Bürger in Deutschland und Europa schwer verunsichert haben.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Es war und ist absolut richtig und notwendig, dass Fachleute und Aufsichtsbehörden jedem Hinweis auf Nebenwirkungen wie Blutgerinnseln im Hirn nachgehen. Jede Regierung, jeder Gesundheitsminister muss auf den Rat seiner Experten vertrauen. Der Staat hat beim Impfen eine besondere Sorgfaltspflicht. Würde Politik in der Pandemie nicht mehr auf die Wissenschaft hören, wären Willkür, Populismus und Fake News Tür und Tor geöffnet.

Ein politischer Schaden bleibt: Warum wurde die gemeldete Zahl überschaubarer Einzelfälle mit schweren Nebenwirkungen bei millionenfacher Impfung von der EMA nicht auf Fachebene geprüft und parallel weitergeimpft? Wurden durch den Hauruck-Impfstopp in den vergangenen Tagen womöglich mehr Menschenleben durch Nichtimpfen geopfert als es Thrombose-Fälle gibt? Warum wurde nicht von Anfang an europäisch gehandelt? Wie Dominosteine kippte ein Land nach dem anderen um.

Es gab keinen Astra-Video-Gipfel der 27 EU-Staats- und Regierungschefs. Das hätte nur ein paar Mausklicks bedurft. Dänemark, Norwegen, Island, Irland, die Niederlande, Deutschland schufen stattdessen nationale Fakten, andere wie Frankreich und Spanien folgten widerwillig – um jetzt nach chaotischen Tagen mit ihren nationalen Experten wieder gemeinsam am EMA-Tisch zu sitzen.

Jens Spahn: Am Freitag soll Impfkampagne weitergehen

Gut ist, dass Jens Spahn und die Bundesländer bereits von diesem Freitag an wieder Astra impfen lassen wollen, mit dem erweiterten Sicherheitshinweis zu möglichen Sinusvenenthrombosen.

So geht Europa nicht. Gemeinsam Impfstoffe bestellen, aber im Alleingang die Sicherheit eines Vakzins anzweifeln. Die Deutschen, die in Brüssel gern als Oberlehrer auftreten, müssen sich da an die eigene Nase fassen. Berlin hat mit dafür gesorgt, dass Astrazeneca einen schweren Stand hatte. So empfahl die Ständige Impfkommission (Stiko) im Januar den Impfstoff nur für Menschen zwischen 18 und 64 Jahren, nicht aber für Ältere ab 65. Das Gremium begründete das mit fehlenden Studiendaten zur Wirkung bei Älteren. Der britisch-schwedische Hersteller und ausländische Experten verstanden das nicht. Die Stiko wich explizit von der EMA-Empfehlung ab. Erst seit Anfang März durfte Astra dann auch an ältere Deutsche verimpft werden.

Es ist zu hoffen, dass das Vertrauen in den Impfstoff rasch zurückkommt. Denn Vakzine sind leider noch Mangelware. Das soll sich von April bis Juni schlagartig verbessern. Dennoch hört es sich schräg an, wenn Deutschland zuletzt wieder Exporte Hunderttausender Dosen des begehrten Biontech-Impfstoffes etwa nach Hongkong genehmigt haben soll. Der viel zu spät angegangene Aufbau heimischer Impfproduktion ist kein Ruhmesblatt. Erst im nächsten Jahr will die viertgrößte Industrienation der Welt autark sein. Da sind Israel, USA und Großbritannien längst durch.

Bei wieder stark steigenden Infektionszahlen ist eine Verlängerung des Lockdowns alternativlos, so lange wir beim Impfen im D-Zug-Tempo unterwegs ist. Bleibt jetzt Astrazeneca massenhaft in Impfzentren liegen, sollte die Priorisierung aufgegeben werden. Ab zum Hausarzt, Ärmel hoch, auf eigenes Risiko: Astra für alle, die es wollen!