Lesbos. Gerade im Winter wird die Lage der Flüchtlinge auf der griechischen Insel immer verzweifelter. Eine Hochschwangere schildert ihr Leid.

Manchmal, in den schlimmsten Momenten, denkt Marziye, sie will ein Messer nehmen und das Baby wegmachen. Damit es nicht an diesem Ort zur Welt kommen muss, wo es kalt ist und nass, wo sie nicht gewollt sind, aber auch nicht wegkönnen. „Das Zelt ist zu kalt“, sagt sie, „ich weiß nicht, wie ich mich hier um mein Baby kümmern soll.“ Lesen Sie auch: Dreijährige in Flüchtlingslager vermutlich vergewaltigt

Marziye Sedaghat ist im achten Monat schwanger. Ihr Kind wird auf der griechischen Insel Lesbos zur Welt kommen, hinein geboren in das Flüchtlingslager Kara Tepe. Eine Person mehr in dem Zelt, in dem Marziye mit ihrem Mann und den drei älteren Kindern lebt, seit das alte Lager Moria im September abgebrannt ist.

400 Dixie-Klos für 7500 Menschen

7500 Menschen leben derzeit in Kara Tepe. Sie teilen sich 400 Dixie-Klos, die bei Stürmen auch mal umfallen, und 200 Duschen, nur ein paar wenige davon mit warmem Wasser.

Das Lager auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz liegt direkt am Meer, bei Sturm reißen die Böen an den Zelten, bei Regen stehen viele der Unterkünfte unter Wasser und die wenigen Habseligkeiten der Menschen werden nass. Auch interessant: Moria: Mutmaßliche Brandstifter sind in Untersuchungshaft

Eine Freundin, deren Zelt überschwemmt wurde, hat für ein paar Tage bei Marziye und ihrer Familie Unterschlupf gefunden. In den Nächten sinken die Temperaturen auf wenige Grad. Möglichkeiten zu heizen gebe es nicht, erzählt Marziye. „Wir haben Decken.“ Doch das reiche nicht, um warm zu bleiben.

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    Hilfsorganisationen: Lage noch schlimmer als in Moria


    In Kara Tepe, das ist auch das Fazit von Hilfsorganisationen auf der Insel, ist die humanitäre Lage noch schlimmer als in Moria, dem völlig überfüllten alten Lager.

    Eine Ärztin aus Deutschland sagte der Deutschen Presseagentur, mangels Waschmöglichkeiten seien Krätze und Läuse allgegenwärtig, behandelt würden häufig auch offene Wunden, Abszesse, Durchfall- und Atemwegserkrankungen sowie Gelenkschmerzen, die sich wegen der Feuchtigkeit und schlechter Schlafstätten einstellen. Ihren Namen will sie lieber nicht nennen. Ein neues Gesetz der griechischen Regierung verbietet es Helfern in Flüchtlingslagern, mit Medien über Missstände zu sprechen.

    Auch zu Gewaltausbrüchen kommt es immer wieder - vergangene Woche soll im Lager ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt worden sein, wie SOS-Kinderdörfer mitteilten.

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      Verzweifelte Situation für die Menschen in den Zelten

      Es ist eine verzweifelte Situation für die Menschen in den Zelten. Bei vielen leidet nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit.

      Die Hilfsorganisation International Rescue Committe (IRC) meldete in der vergangenen Woche, dass seit Beginn der Pandemie die Zahl der Personen, die sich mit psychotischen Symptomen an die Organisation wandten, um 70 Prozent gestiegen sei. Bei selbstverletzendem Verhalten gebe es einen Anstieg um 66 Prozent.

      Asthma-, Bandscheibenvorfall, Schmerzen in Rücken und Beinen

      Auch sie habe psychische Probleme, sagt Marziye, Depressionen. Den ganzen Tag sitze sie im Zelt. Viel zu oft verliere sie die Nerven, schreie sie ihre Kinder an. Dazu kommen eine Asthma-Erkrankung und ein Bandscheibenvorfall, der Schmerzen in Rücken und Beinen verursacht.

      Zuletzt habe sie auch Krampfanfälle gehabt, sagt die 31-Jährige. Die Medikamente gegen die Depression hat sie wieder abgesetzt, nachdem das Baby aufgehört hatte, sich zu bewegen.

      Mutter: „Es ist die Hölle“

      Auch die Kinder leiden unter der Situation: Die zweijährige, Yasna, habe aufgehört zu sprechen, sagt Marziye. Nazanin, die mittlere, streite sich nur noch mit allen. Das schlimmste sei es, dass sie so wenig für die Kinder tun könne. „Nicht einmal kleine Wünsche kann ich ihnen erfüllen“, sagt die Mutter, ihre Stimme klingt resigniert. Lesen Sie hier: Brand in Moria: Die Hilflosigkeit der Helfer auf Lesbos

      „Ich hätte nicht gedacht, dass Europa so ist“, sagt sie. „Es ist die Hölle.“ Dabei waren es die Kinder, wegen denen sie sich einmal auf den Weg gemacht hatten. Marziye ist Iranerin, ihr Mann Ali Afghane. Im Iran, wo die Familie zuvor gelebt hatte, werden Afghanen systematisch diskriminiert. Die Kinder seien als Afghanen gezählt worden, sagt Marziye, hätten deswegen nicht zur Schule gehen können. „Es gibt dort keine Zukunft für sie.“

      Die Familie hofft, in Europa aufgenommen zu werden, sich dort ein Leben aufbauen zu können. Vor zwei Monaten habe sie ihr Interview mit den griechischen Behörden gehabt, sagt Marziye. Gehört hat sie noch nichts.

      Aufruf von 250 Bundestagsabgeordneten

      Mit den Berichten über das Elend im neuen Lager wächst der Druck auf die Bundesregierung, zu handeln. In der vergangenen Woche hatten fast 250 Bundestagsabgeordnete fraktionsübergreifend dazu aufgerufen, aus humanitären Gründen weitere in Griechenland festsitzende Flüchtlinge aufzunehmen.

      Die Abgeordneten erinnerten daran, dass mehr als 200 deutsche Kommunen und auch einige Bundesländer zugesagt haben, zusätzliche Geflüchtete aufzunehmen. „Diese Zusagen übersteigen die vom Bund koordinierte Aufnahme deutlich“, heißt es in dem Weihnachtsappell. „Wir sehen die Bundesregierung in der Pflicht, den Kommunen und Ländern, die eine menschenrechtswürdige Unterbringung ermöglichen können und wollen, eine Zusage für die Aufnahme zu erteilen.“

      Seit März 1518 Migranten aus Griechenland aufgenommen

      Zu den Unterzeichnern gehören die Grünen-Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter sowie Parteichefin Annalena Baerbock, SPD-Chefin Saskia Esken, die Linken-Fraktionschefs Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch sowie Parteichefin Katja Kipping und der frühere Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU). Lesen Sie auch: Brand im Flüchtlingscamp auf Lesbos: Bericht über totes Kind

      Bisher hat Deutschland seit März 1518 Migranten aus Griechenland aufgenommen. Die Bundesländer hatten insgesamt angeboten, für bis zu 3700 Menschen Platz zu schaffen.

      „Pilot-Aufnahmezentrum“ auf Lesbos geplant

      Das vordringliche Ziel der Bundesregierung bleibe es aber, „die Situation der Schutzsuchenden vor Ort zu verbessern“, heißt es in einer Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion. Man verweist auf ein geplantes „Pilot-Aufnahmezentrum“, das auf Lesbos entstehen soll, in Zusammenarbeit der Europäischen Kommission mit der griechischen Regierung.

      Das neue Camp soll Platz für etwa 5000 Bewohner haben und im September 2021 fertig sein. Das Konzept hat eine Taskforce der EU-Kommission ausgearbeitet, die nach dem Brand in Moria gebildet wurde.

      Camp mit Arztpraxis und Krankenstation

      In dem neuen Lager sollen die Menschen in Wohncontainern untergebracht werden. Es soll eine Arztpraxis und Krankenstation, Sportanlagen und Freizeiteinrichtungen, Gemeinschaftsküchen, Spielplätze und Bildungsangebote geben, aber auch einen „Haftbereich“. Hier werden abgelehnte Asylbewerber bis zu ihrer Abschiebung in die Herkunfts- oder sichere Drittländer untergebracht.

      Marziye und ihre Familie hoffen weiterhin, dass sie bis dahin die Insel in Richtung europäisches Festland verlassen haben. „Irgendein anderer Ort“, sagt die Mutter, alles, bloß nicht Lesbos. Ihr Baby wird wohl noch auf der Insel zur Welt kommen. Nach ein paar Tagen im Krankenhaus wird es wie seine Eltern und Geschwister in dem Zelt an der windigen Küste leben.​