Frankfurt/Main. Bewegende Aussage im Mordprozess: Jan-Hendrik Lübcke schildert, wie er seinen Vater, den erschossenen Regierungspräsidenten, auffand.

An Mord denkt Jan-Hendrik Lübcke nicht. Der Notarzt ebenso wenig. Das Blut am Hinterkopf von Walter Lübcke bemerken beide. Auf Anhieb erklären kann man es sich auch später im Krankenhaus nicht. Wenn eine Todesursache ungeklärt ist, wird die Kripo gerufen. Von einem Polizisten erfährt Jan-Hendrik Lübcke im Sechs-Augen-Gespräch – eine Beamtin macht Notizen –, dass ein „Gegenstand“ im Kopf seines Vaters gefunden wurde: eine Pistolenkugel.

Abgefeuert aus nächster Nähe in jener Nacht zum 2. Juni 2019 im nordhessischen Wolfhagen-Istha, die der Zeuge am Dienstag im Saal 165C des Frankfurter Oberlandesgerichts zwei Stunden lang eindringlich, detailliert, minutiös schildert, anfangs gefasst, zum Schluss um Fassung ringend, mit erstickter Stimme. Ein Kraftakt am Zeugenstand, vis-à-vis mit den mutmaßlichen Mördern des Kassler Regierungspräsidenten, den Neonazis Stephan E. und Markus H .

Lübcke-Sohn sagt aus – die Verteidigung muss sich neu ordnen

Die Verteidiger haben nur eine Frage, so viel Schonung verblüfft selbst einen so erfahrenen Juristen wie den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel: „Ich kann es fast nicht glauben.“ E.s Verteidiger haben vor allem mit sich selbst zu tun.

Der Kölner Anwalt Mustafa Kaplan avanciert an diesem siebten Verhandlungstag zum Hauptverteidiger, nachdem der Senat zu Beginn seinen Kollegen Frank Hannig, einen Mitbegründer von Pegida, „entpflichtet“ hat.

Der bisherige Hauptverteidiger wird „entpflichtet“

Hannig hatte am Vortag Anträge gestellt, die Lübcke und die Söhne Christoph (36) und Jan-Hendrik (30) in ein schiefes Licht rücken sollten, als wären sie in „krumme Geschäfte verwickelt“. Das war nach Ansicht des Richters „gequirlter Unsinn“ und selbst für den Neonazi Stephan E. zu viel der Ehrverletzung. Lesen Sie dazu auch: Mordfall Lübcke: Wie tickt der Tatverdächtige Stephan E.?

Während Markus H. schweigt, wollte Stephan E. ursprünglich am Donnerstag eine Aussage machen. Es wäre die dritte. Nun wurde sie angesichts der Neuaufstellung der Verteidigung auf Mittwoch nächster Woche verschoben.

Stephan E. hat die Tat gestanden – und widerrufen

Nach seiner Festnahme im Juni 2019 hatte E. die Tat eingeräumt; ein Geständnis, das er aber im Januar 2020 widerrief, indem er die Schuld auf Markus H. lenkte. Er soll abgedrückt haben, bei einem Gerangel, „aus Versehen“.

Für die Staatsanwaltschaft ist Stephan E. der Hauptangeklagte und Markus H. sein Komplize. H.s Verteidiger fühlen sich nach Anhörung des „tatnächsten“ Zeugen bestätigt, dass es zu keiner Rangelei kam und ihr Mandant kein Mörder sei. Lesen Sie dazu: Der Mord an Walter Lübcke: Das Protokoll einer Hinrichtung

Jan-Hendrik Lübcke: Tat hat die Familie zerrissen

Jan-Hendrik Lübcke berichtet über den Vater und Politiker, der sich für Flüchtlinge einsetzte und Hassmails, die er daraufhin erhielt, der Familie nicht vorlas. Mit ruhiger Stimme und anhand von Fotos beschreibt er die Örtlichkeiten: Haus, Terrasse, Wiese, die angrenzende Kirmes.

„Was hat diese Tat mit der Familie gemacht?“, fragt der Richter. „Innerlich zerrissen, würde ich sagen“, antwortet Lübckes Sohn, „unbegreiflich, damit wird man nie fertig.“ Von einem normalen Alltag, sagt der Unternehmer in der Solarbranche, sei er weit entfernt. „Es wird nie wieder so sein.“

So fand der Sohn seinen erschossenen Vater

Er muss den Mörder seines Vaters nur knapp verpasst haben. Auf dem Rückweg von der Kirmes fällt ihm damals kurz nach Mitternacht als Erstes auf, dass das Licht in der Küche brennt und die Tür zur Terrasse offen steht. Den Vater findet er wie so oft im Gartenstuhl, wo er gern am iPad Nachrichten durchgeht.

Walter Lübcke hat im Garten gearbeitet, er trägt noch immer die abgenutzte Hose und ein kariertes, kurzärmeliges Hemd. Er hat die Hände auf dem Schoss, in der einen glimmt eine Zigarette, den Kopf an die Hauswand gelehnt. Der erste Gedanke: Der Vater ist eingenickt.

Ein Mord? der Gedanke kommt ihm nicht

Er fasst den Arm an, klopft auf Bauch und Wange – keine Reaktion vom Vater. Panik erfasst langsam Jan-Hendrik Lübcke. Der zweite Gedanke: Herzinfarkt. „Er war ja nicht der Schlankste, wir haben ihm oft gesagt, er sollte abnehmen.“

Dass der Politiker an Nase und Mund blutet, kriegt der Sohn erst später mit, auch dann hegt er keinen Mordverdacht. Der Gedanke ist unvorstellbar.