Hans-Jochen Vogel – Trauer um einen Unerschütterlichen
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Von Alessandro Peduto
Berlin/München. Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel ist tot. Der ehemalige Bundesjustizminister starb im Alter von 94 Jahren in München.
Wie hätte es leicht sein sollen, ihm zu widersprechen? Hans-Jochen Vogel hat so vieles in seinem Leben gesehen, er hat eine Welt aus eigener Anschauung erlebt, die andere nur aus Dokumentarfilmen und Büchern kannten.
Oft wusste er es einfach besser, weil er es durchlebt hatte: die NS-Zeit, den Krieg, die junge Bundesrepublik, den Kalten Krieg, den Terror der RAF, ganz zu schweigen von politischen Erfolgen und Niederlagen, auch persönlichen. Das verlieh ihm vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens eine natürliche Autorität. Er brachte sie mit Charme und Prinzipienfestigkeit in Diskussionen ein, egal ob es um Lösungen in der Politik oder um den richtigen Weg seiner oft mit sich selbst hadernden Partei ging.
Hans-Jochen Vogel war einer der letzten Sozialdemokraten einer Generation, die noch mitbekommen hat, wie eine SPD-Mitgliedschaft zur Lebensbedrohung werden konnte. Am Sonntag ist der frühere Bundesvorsitzende im Alter von 94 Jahren in München gestorben. Das teilte seine Ehefrau Liselotte Vogel mit.
Hans-Jochen Vogel ist tot: Es hatte ihn früh in die Politik gezogen
Über Jahrzehnte hat Vogel die Politik des Landes geprägt. Und es gab kaum ein politisches Amt, das er nicht bekleidet hätte. Er war Oberbürgermeister von München, Bundesminister, Regierender Bürgermeister von Berlin, Fraktionschef im Bundestag, Parteivorsitzender, SPD-Kanzlerkandidat. Parallel machte sein jüngerer Bruder Bernhard Vogel bei der CDU Karriere, bis hin zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und Thüringen.
Hans-Jochen Vogel hatte es früh in die Politik gezogen. Mit Mitte zwanzig trat er in die SPD ein. Es sollte trotz aller Höhen und Tiefen eine Beziehung fürs Leben bleiben. Bereits mit 34 Jahren wurde der 1926 in Göttingen geborene Professorensohn Oberbürgermeister in München und damit jüngstes Stadtoberhaupt einer deutschen Großstadt. Er trug dazu bei, die Olympischen Spiele 1972 nach München zu holen.
1983 holte er für die SPD 38 Prozent – ein schlechter Wert
Wegen heftiger Auseinandersetzungen mit der SPD-Linken warf der damalige Vertreter der Parteirechten das Handtuch. Er ging in die Bundespolitik, wurde Mitbegründer des Seeheimer Kreises, einer bis heute einflussreichen Gruppierung innerhalb der Partei. In seiner aktiven Bonner Zeit galt Vogel später als der Mann mit den „Klarsichthüllen“, der durchaus pedantisch sein konnte. Er erhielt den Beinamen „Oberlehrer“.
Nach dem Amtsverlust von Kanzler Helmut Schmidt 1982 hatte Vogel die undankbare Aufgabe, bei der Bundestagswahl im darauffolgenden Jahr als SPD-Kandidat gegen den neuen Regierungschef Helmut Kohl (CDU) anzutreten. Die Wahl vom März 1983 war für die SPD nicht zu gewinnen. Die Sozialdemokraten sackten auf für sie damals schlechte 38,2 Prozent ab.
Bundestagswahl 1983: Vogel wurde die Pleite nicht angelastet
Doch Vogel wurde die Pleite nicht angelastet. Es gelang ihm sogar, seine Position in der SPD auszubauen. Direkt nach der Wahl 1983 übernahm Vogel im Bundestag den Fraktionsvorsitz von Herbert Wehner, 1987 dann zusätzlich den Parteivorsitz von Willy Brandt. Vogel war damit einer der wenigen in der SPD, der Chef von Partei und Fraktion war. Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Ende 1990 gab Vogel im darauffolgenden Jahr beide Posten ab, um sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen.
In der SPD galt Vogel zeitlebens als gutes Gewissen mit unerschütterlichen moralischen Grundsätzen. Neben dem Kampf um soziale Gerechtigkeit trieb ihn bis ins hohe Alter vor allem ein Thema um: der drohende Zerfall Europas. Schon als der Austritt Großbritanniens aus der EU sich erstmals abzeichnete, sagte Vogel, dass 70 Jahre Frieden in Europa nur durch die Überwindung des Nationalismus möglich geworden seien. Kaum einer hätte glaubhafter als Mahner auftreten können.
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Hans-Jochen Vogel sah die SPD in einer „ernsten Krise“
Seine Parkinson-Erkrankung machte Vogel erst wenige Jahre vor seinem Tod öffentlich. Bis zuletzt lebte er mit seiner Frau Liselotte in einem Seniorenstift in München. Dort ließ er sich – sofern es seine Gesundheit zuließ – von Freunden, Genossen und Journalisten besuchen. Mit ihnen diskutierte er über aktuelle Themen, etwa über die Flüchtlingskrise oder das Erstarken rechter Strömungen in Europa. Er sah sich nicht in der Rolle desjenigen, der sich als passiver Beobachter zurückzog, um den Lauf der Dinge den Jungen zu überlassen.
Vogel schaltete sich in Debatten ein, und sein Rat war gefragt, auch wenn bisweilen mehr von Journalisten als von der eigenen Partei. Vor einem Jahr wandte er sich zusammen mit acht weiteren früheren SPD-Vorsitzenden in einem Aufruf an die Parteibasis. „Wir sind in sehr großer Sorge um unsere Partei“, schrieben sie, „die SPD befindet sich in einer ernsten Krise.“ Daran sollte sich so schnell nichts ändern.
Die SPD würdigte Vogel am Sonntag als herausragende Persönlichkeit. Die Partei verliere „nicht nur einen ehemaligen Vorsitzenden, sondern ein Vorbild an Anstand, Integrität und Verlässlichkeit“, schrieb der SPD-Bundesvorstand in einer gemeinsamen Erklärung. Parteichefin Saskia Esken sagte, Vogel habe „wie kaum einer für Verständnis und Fürsorge, Demokratie und Menschlichkeit gestritten. Wir trauern und verneigen uns vor diesem großen Sozialdemokraten. Deutschland und die SPD haben Hans-Jochen Vogel viel zu verdanken.“