London. Anders als fast alle anderen Länder geht die britische Regierung nicht entschlossen gegen das Coronavirus vor. Die Kritik daran wächst.
Die Straßen in London waren übers Wochenende überraschend belebt. Während Länder rund um die Welt den Notstand ausriefen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, gibt sich die britische Regierung betont gelassen: Bislang will sie weder Schulen noch Läden schließen, und ob größere Anlässe stattfinden, ist den Veranstaltern überlassen.
Die Ratschläge an die Öffentlichkeit beschränken sich darauf, die Hände regelmäßig zu waschen. Sollte jemand die typischen Coronavirus-Symptome zeigen, ist eine Selbstisolierung von sieben Tagen empfohlen. Dieser lasche Ansatz der britischen Behörden hat viele Epidemie-Experten entsetzt – sie befürchten, dass der Gesundheitsdienst in den kommenden Wochen völlig überwältigt wird.
Coronavirus: Die britische Regierung hält sich zurück
Die Gesundheitsberater, deren Empfehlungen Premierminister Boris Johnson folgt, halten drastische Maßnahmen zu diesem Zeitpunkt für verfrüht. Sollte die Bevölkerung schon jetzt angehalten werden, alle sozialen Kontakte zu vermeiden, könnte es bald zu Ermüdungserscheinungen kommen, sagen sie – und zwar genau dann, wenn es am nötigsten sei.
Zudem sollen die Briten durch die Verbreitung des Coronavirus eine sogenannte „Herdenimmunität“ erlangen: Wenn ein Großteil der Bevölkerung am Virus erkrankt und dadurch immun wird, könnte das Virus auf längere Frist besser bekämpft werden.
Johnsons Berater hoffen auf „Herdenimmunität“ – Experten sind entsetzt
Doch unter Experten ist diese Theorie sehr umstritten. Ein Epidemiologe, der in Harvard unterrichtet, schreibt im „Guardian“, er habe den Vorschlag der britischen Regierung zunächst für Satire gehalten. Herdenimmunität sei in diesem Fall nicht relevant, da es sich nicht um eine Impfung handle, sondern um eine richtige Pandemie, die tödlich enden kann. „Die Sterberate mag relativ gering sein, aber ein kleiner Bruchteil einer sehr großen Zahl ist dennoch eine große Zahl“, schreibt er.
Tatsächlich kommt ein internes Dokument der Gesundheitsbehörde Public Health England zum selben Schluss: Laut dem Papier, das am Sonntagabend der Presse zugespielt wurde, könnten in Großbritannien fast acht Millionen Menschen wegen des Coronavirus im Krankenhaus landen.
Das Vorgehen der Regierung gerät immer mehr in die Kritik
Die Autoren gehen davon aus, dass die Krise bis im Frühling 2021 anhalten wird. In dieser Zeitspanne würden bis zu 80 Prozent der Briten an Covid-19 erkranken.
Die Strategie der britischen Regierung geriet indes immer stärker unter Beschuss. Über 200 Wissenschaftler haben einen öffentlichen Brief unterzeichnet, in dem sie schärfere Maßnahmen fordern. Andernfalls würde der NHS bald einer untragbaren Belastung ausgesetzt, was „viel mehr Leben als nötig kosten würde“.
Die Infrastruktur des britischen Gesundheitsdiensts gibt aufgrund jahrelanger Sparmaßnahmen ein kümmerliches Bild ab. Während beispielsweise in Deutschland auf 100.000 Einwohner fast 30 Intensivbetten kommen, sind es in Großbritannien gerade mal 6.6.
Im britischen Gesundheitssystem fehlt es an fast allem
Dass der NHS einem sprunghaften Anstieg von Corona-Erkrankungen – wie in Italien und Spanien in den vergangenen zwei Wochen – gewachsen wäre, glaubt niemand. Ärzte sind mit düsteren Warnungen an die Öffentlichkeit getreten, dass es so ziemlich an allem fehlt: Betten, Gesichtsmasken, Krankenzimmer, Ventilatoren und Fachkräften.
Im Gegensatz zur Regierung sind sich viele Briten der Gefahr bewusst, die auf sie zukommt. Etliche Veranstaltungen sind abgesagt worden, etwa Theateraufführungen, Konzerte und Fußball-Events. Zahlreiche Unternehmen, darunter Banken, Versicherungen und kleinere Firmen, haben ihre Angestellten angewiesen, von zu Hause zu arbeiten, wenn dies möglich ist. Das Londoner U-Bahnnetz hat am Montag einen Rückgang der Passagierzahlen um fast 20 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres gemeldet.
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