Paris. Wusste Frankreichs Innenminister Castaner mehr über den Angreifer von Paris, als er sagte? Die Opposition fordert seinen Rücktritt.

Seit sich der Verdacht erhärtet hat, dass es sich bei dem blutigen Messerattacke im Pariser Polizeipräsidium doch um einen Terroranschlag handelte, steht Frankreich unter Schock. Die Vorstellung, dass ein in einer der höchsten Dienststellen der „police nationale“ angestellter Beamter sich vollkommen unbemerkt radikalisierte und vier Polizisten tötete, will vielen unserer Nachbarn einfach nicht in den Kopf.

Die gleichermaßen von Entsetzen und Fassungslosigkeit geprägte Frage der Stunde lautet: Wie konnte so etwas passieren?

Paris: Konnte der Angreifer selbst die Geheimdienste täuschen?

Offensichtlich glaubten Kollegen wie Vorgesetzte des aus dem französischen Überseedepartment Martinique stammende und mit einer Muslimin verheirateten Täters, dass er erst vor 18 Monaten zum Islam konvertierte. Doch die Ermittler fanden rasch heraus, dass der 45-jährige Mickael Harpon schon seit 10 Jahren zu den regelmäßigen Moscheegängern in seiner Pariser Vorstadtgemeinde zählte.

Dennoch wurden er und seine Frau von beinahe allen, die sie näher kannten, keineswegs als strenggläubige, geschweige denn als radikale Muslime angesehen. Unbedarfte Mitbürger und Bekannte mag man täuschen können. Aber die Geheimdienste?

Messerangriff in Paris- Täter arbeitete bei der Polizei

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    Frankreichs Innenminister musste sich schnell wieder korrigieren

    Harpon arbeitete seit 16 Jahren als Informatiker für die Aufklärungsabteilung der Polizeipräfektur, die unter anderem mit Anti-Terror-Ermittlungen befasst ist. Er hatte Zugang zu vertraulichen und geheimen Dokumenten, was regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen seiner Person voraussetzt. Trotzdem heißt es, dass Harpon nie auffällig geworden ist, da er anderenfalls umgehend auf einen weniger sensiblen Posten versetzt worden wäre.

    Ein Rettungswagen fährt nach der Messerattacke in der Pariser Polizeipräfektur durch eine versperrte Straße.
    Ein Rettungswagen fährt nach der Messerattacke in der Pariser Polizeipräfektur durch eine versperrte Straße. © dpa | Jair Cabrera Torres

    In einer ersten Stellungnahme hatte Innenminister Christoph Castaner am Donnerstag kurz nach der Tat erklärt, dass die Motive Harpons zwar unklar seien, man „im Augenblick“ aber von einem „Arbeitsplatz-Drama“ ausginge. Von jüngst aufgetretenen Spannungen zwischen Harpon und seinen Vorgesetzten war anfangs die Rede und von einem „Ausraster“ des Täters. Keine 24 Stunden später waren diese Mutmaßungen hinfällig. Es verdichteten sich Hinweise auf ein Terrormotiv bei der Bluttat in Paris.

    Angreifer schrieb seiner Frau kurz vor Tat 33 kryptische SMS

    Fest stand jetzt, dass Harpon nicht einer urplötzlichen Eingebung gefolgt war, sondern seinen Anschlag plante. So hat er erst am Donnerstagmorgen, bevor er sich zur Arbeit begab, die beiden Tatwaffen – ein langes Küchen- sowie ein Austernmesser – erworben und in sein Büro geschmuggelt.

    Danach tauschte er 33 SMS mit seiner ihn mit beunruhigten Fragen bedrängenden Frau aus, auf die er jedoch nur mit religiösen Anspielungen oder Anweisungen („Allah ist groß, folge unserem geliebten Propheten und beachte den Koran“) antwortete.

    Täter war Mitglied einer salafistischen Chat-Gruppe

    Entgegen ersten Meldungen hat Harpon seine Frau, die sich seit Donnerstagabend in Polizeigewahrsam befindet, den Kauf der beiden Messer verschwiegen. Es war die Auswertung des Handys von Harpon, die am Freitagabend dazu führte, dass die Pariser Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes und Mordversuchs in Verbindung mit einer terroristischen Organisation einleitete.

    In der Kontaktliste des Täters waren die Ermittler auf Personen gestoßen, die der salafistischen Szene zugerechnet werden. Zudem war er Mitglied einer salafistischen Chatgruppe, die ausschließlich via der Verschlüsselungs-App Telegram kommunizierte.

    Opposition wirft Castaner Täuschung der Öffentlichkeit vor

    „Harpon ist Anhänger einer radikalen Interpretation des Islams gewesen“, bestätigte schließlich am Samstag der Pariser Staatsanwalt Jean-François Ricard. Wegen seines Glaubens habe er sich in jüngster Zeit anders gekleidet, am Arbeitsplatz versucht, den Kontakt mit Frauen einzuschränken, und sich gegenüber einem Kollegen positiv über das islamistische Attentat auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 geäußert.

    Rechtsextremistin Marine Le Pen will im Verhalten des französischen Innenminister einen „Staats-Skandal“ erkannt haben.
    Rechtsextremistin Marine Le Pen will im Verhalten des französischen Innenminister einen „Staats-Skandal“ erkannt haben. © Reuters | JEAN-PAUL PELISSIER

    Wegen dieser Erkenntnisse und wegen seiner ersten Stellungnahme, die Kritiker im Nachhinein als „verharmlosend“ brandmarkten, ist nun Innenminister Castaner unter Beschuss geraten. Während die Rechtsextremistin Marine Le Pen sein Verhalten als einen „Staats-Skandal“ bezeichnete, wirft ihm der konservative Abgeordnete Eric Ciotti sogar vor, die Öffentlichkeit getäuscht zu haben, indem er die Wahrheit über die den Behörden angeblich bekannte Radikalisierung Harpons verschwieg.

    Vorgesetzter soll von Sympathien für „Charlie Hebdo“-Täter gewusst haben

    Christian Jakob, der Fraktionschef der konservativen Republikaner in der Nationalversammlung, verlangt eine parlamentarische Untersuchung, andere konservative und rechtsextremistische Abgeordnete fordern den Rücktritt von Castaner. Beweise für die Behauptung, dass der Innenminister Informationen über ein auffälliges Verhalten des Täters zurückhielt, legte die Opposition allerdings nicht vor.

    Aus Ermittlerkreisen sickerte durch, dass der Beamte, dem gegenüber Harpon seine Sympathie für die Angreifer auf die Redaktion des Satiremagazins äußerte, umgehend den direkten Vorgesetzten seines Kollegen unterrichtet hat. Dessen Chef jedoch soll die Information nicht weitergegeben haben, weil er Harpon, den er schätzte, nicht als ein Sicherheitsrisiko ansah.

    Selbst linke Politiker geben Castaner Rückendeckung

    Regierungschef Edouard Philippe stellte sich am Sonntag hinter seinen Innenminister, der „mitgeteilt hat, was zum Zeitpunkt der Äußerungen seinem Kenntnisstand entsprach“. Eine Meinung, die von zahlreichen Beobachtern sowie sogar von linken, Castaner alles andere als gewogenen Politikern geteilt wird.

    Der Minister, so deren Überzeugung, würde sich wohl kaum vor einer Wand von Kameras und Mikrofonen bloßgestellt haben, wenn er zuvor einen Hinweis auf die mögliche Radikalisierung Harpons erhalten hätte.