Berlin. Bei der Pflege von Angehörigen plant Sozialminister Hubertus Heil weitreichende Entlastungen. Städte fürchten Kosten in Milliardenhöhe.

Vom Balkon aus geht der Blick auf einen grauen Hinterhof. Nur die violetten Petunien in den Blumenkästen sorgen für etwas Farbe. Seit vier Jahren wohnt die alte Dame jetzt hier im Pflegeheim. Sie ist dement und braucht rund um die Uhr Betreuung. Im Amtsdeutsch heißt das „schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ oder kürzer: Pflegegrad vier. Ausziehen wird sie hier nicht mehr.

Zu dem persönlichen Schicksal der 83-Jährigen und ihrer Angehörigen kommt ein finanzielles Problem. Weil die Pflegeversicherung nur einen Teil der Heimkosten übernimmt und die Rente der alten Frau nicht reicht, springt der Staat ein. Der aber holt sich das Geld zum Teil von den Angehörigen wieder: Die Tochter der alten Dame muss den Heimaufenthalt ihrer Mutter jeden Monat mit rund dreihundert Euro bezuschussen. Das geschieht nicht freiwillig, sondern ist gesetzliche Pflicht.

Geht es nach Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD), soll diese Praxis ein Ende haben, zumindest für den Großteil der Angehörigen. An diesem Mittwoch soll die Bundesregierung das „Angehörigen-Entlastungsgesetz“ beschließen.

Pflege: Kinder sollen erst ab 100.000 Euro Jahreseinkommen Kosten tragen

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Heil nennt das „eine längst überfällige“ Entlastung. „Der Großteil der Angehörigen braucht kein Geld mehr an den Staat zurückzuzahlen“, fasst der Minister die Wirkung des Gesetzes zusammen und betont: „Es lag mir besonders am Herzen, diese Gerechtigkeitslücke zu schließen.“

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD war das Gesetz bereits vereinbart worden. Es soll auch für die Eltern von behinderten Kindern gelten. Auch sie müssen oft in die eigene Tasche greifen, um die Teilhabe ihrer Kinder am gesellschaftlichen Leben möglich zu machen.

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Fast 400.000 alte Menschen erhalten Sozialleistung „Hilfe zur Pflege“

Derzeit gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bundesweit fast 400.000 alte Menschen, die „Hilfe zur Pflege“ bekommen. Das ist die Sozialleistung, die der Staat zahlt, wenn das eigene Einkommen oder das Vermögen nicht reicht, um den Pflegedienst oder den Aufenthalt im Pflegeheim zu bezahlen. So ist es bisher auch bei der 83-jährigen alten Dame mit Demenz.

Ihr Einzelzimmer im Heim kostet jeden Monat insgesamt 3830 Euro. Die gesetzliche Pflegeversicherung übernimmt davon 1780 Euro. Die Rente der alten Dame beträgt aber nur 1440 Euro. Damit bleibt jeden Monat unterm Strich eine Lücke von 610 Euro.

Landkreis fordert Kostenbeteiligung der Tochter für Pflege

Zu Beginn ihres Heimaufenthalts vor vier Jahren gab es noch ein kleines Vermögen, aus dem sie die Summe finanzieren konnte. Das Geld aber ist inzwischen aufgebraucht. Der Landkreis, in dem das Heim liegt, zahlt nun die Hilfe zur Pflege. Er übernimmt aber nicht die gesamten Kosten, sondern fordert einen Anteil der Tochter.

Pflegenotstand- Darum muss die Bundesregierung mehr dagegen tun

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    Wie viel die engste Angehörige übernehmen muss, wird in einem komplizierten Verfahren berechnet. Ihr eigenes Einkommen, ihr Vermögen, die Kosten ihrer Wohnung, die Zahl der Kinder – alles das wird berücksichtigt.

    In diesem September muss die Tochter 240 Euro für die Unterbringung ihrer Mutter zahlen. Im Oktober, wenn sie für ihren Sohn, den Enkel der 83-Jährigen, kein Kindergeld mehr erhält, steigt die Summe auf 340 Euro. Entsprechend groß ist ihre Hoffnung, dass es mit dieser finanziellen Belastung bald vorbei ist.

    • Wissen:

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    Heil: Sozialhilfe muss sich gesellschaftlichem Wandel anpassen

    Das Gesetz von Minister Heil verspricht nun „eine umfassende und weitreichende Reform des Unterhaltsrückgriffs in der Sozialhilfe“. Dass Kinder sich künftig erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro an den Pflegekosten ihrer Eltern beteiligen sollen, sei „ein Signal, dass die Gesellschaft die Belastung von Angehörigen“ anerkenne, heißt es in dem Gesetzentwurf.

    Das Sozialhilferecht solle sich „den gewandelten Lebensverhältnissen der Gesellschaft“ anpassen. Anders als bisher solle die Familie nicht mehr als „Not- und Haftungsgemeinschaft“ gesehen werden. Stattdessen werde „die Solidargemeinschaft stärker in die Verantwortung genommen“.

    Erhöhung der Einkommensgrenze auch aus anderem Grund nötig

    Das Gesetz ist aber nach Meinung von Heils Beamten auch aus rein juristischen Gründen notwendig, denn die Einkommensgrenze von 100.000 Euro für Angehörige gilt schon seit einigen Jahren, wenn der Staat „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ zahlt.

    Der Grundsatz der Gleichbehandlung mache es nötig, die finanzielle Belastung von Angehörigen auch bei anderen Leistungen des zwölften Sozialgesetzbuchs zu beschränken, heißt es deshalb im Gesetzentwurf, etwa bei der Blindenhilfe. Ähnlich sei es bei den Eingliederungshilfen für behinderte Menschen.

    Städte und Gemeinden müssen künftig Pflege-Kosten tragen

    Während viele Angehörige nun also auf finanzielle Entlastung hoffen, kommen auf die Kommunen hohe Kosten zu: Städte und Gemeinden müssen das ausgleichen, was Angehörige nicht mehr zahlen. Das Bundessozialministerium schätzt die Mehrkosten auf 300 Millionen Euro pro Jahr.

    Genau wisse man das aber nicht: „Es gibt keine ausreichende Datengrundlage über den Personenkreis der erwachsenen Kinder, die für die Pflegekosten ihrer Eltern aufkommen.“

    • Hintergrund:

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    BERLIN, GERMANY - MARCH 06: An old man is walking on a sidewalk with a walking frame on March 06, 2018 in Berlin, Germany. (Photo by Florian Gaertner/Photothek via Getty Images)
    Von Kerstin Münstermann und Theresa Martus

    Städtetag fordert, Leistungen der Pflegeversicherung anzuheben

    Diese Daten hat auch der Deutsche Städtetag nicht, aber der Verband glaubt aus Gesprächen mit den Praktikern vor Ort zu wissen, dass die Kosten viel höher sein werden. Von den fast vier Milliarden Euro, die Kommunen jedes Jahr für die „Hilfe zur Pflege“ ausgeben, werde „ein erheblicher Teil durch die Heranziehung von Unterhaltsverpflichteten refinanziert“.

    Von diesen Einnahmen würden demnächst 90 Prozent wegfallen. Der Städtetag fordert, dass stattdessen die Leistungen der Pflegeversicherung angehoben werden sollten.

    Städte- und Gemeindebund: Gesetz höhlt das Solidarprinzip aus

    Auch der Städte- und Gemeindebund erwartet stark steigende Sozialhilfeausgaben und wirft der großen Koalition vor, „Wahlversprechen“ auf die Kommunen abzuwälzen. Das geplante Gesetz höhle das Solidarprinzip aus, kritisiert der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Gerd Landsberg: Städte und Gemeinden würden zu „Ausfallbürgen“ für Angehörige.

    Einerseits verfolge die Bundesregierung den richtigen Plan, die hoch verschuldeten Kommunen von Altschulden zu entlasten, „anderseits werden mit einem Federstrich im Gesetz neue Milliardenbelastungen auf den Weg gebracht, um Besserverdiener von eigentlich selbstverständlichen familiären Verpflichtungen zu befreien“, sagt Landsberg. Er meint: „Es ist grundsätzlich zumutbar, dass Kinder und Eltern gegenseitig füreinander einstehen. Daran sollte nicht gerüttelt werden.“

    Kritiker: Vermögen der Angehörigen wird nicht berücksichtigt

    In einer schriftlichen Stellungnahme zum Gesetz kritisiert der Verband auch, dass künftig nur das Jahreseinkommen berücksichtigt werden soll, nicht aber das Vermögen der Angehörigen. Es gebe „eine nennenswerte Zahl von Fällen“, in denen Kinder zwar weniger als 100.000 Euro Einkommen hätten, aber „erhebliches Vermögen“ wie etwa Immobilien.

    Nach Meinung des Verbands wird das Gesetz auch das Verhalten der Angehörigen von Pflegebedürftigen beeinflussen: Schon jetzt könne man beobachten, dass Kinder, die keinen Unterhalt zahlen müssen, ihre pflegebedürftigen Eltern relativ früh und in relativ teuren Heimen unterbrächten. Ziehe man sie dagegen zum Unterhalt heran, würden die Eltern in einem Heim einquartiert, für das ihr Einkommen ausreiche.

    Zustimmung kommt von Gewerkschaften und Sozialverbänden

    Der Bundesverband der privaten Anbieter sozialer Dienste (bpa) wiederum befürchtet, dass Kommunen künftig darauf hinwirken könnten, dass pflegebedürftige Menschen möglichst günstig versorgt werden: „Die Wahlfreiheit der sozialhilfeberechtigten Personen und die Gleichberechtigung der Einrichtungen muss gewahrt bleiben.“

    Die Reaktionen von Gewerkschaften und Sozialverbänden auf die Pläne des Bundessozialministers fallen positiv aus: „Viele ältere Menschen schrecken derzeit davor zurück, Hilfe vom Sozialamt in Anspruch zu nehmen. Sie gehen nicht ins Heim, obwohl sie zu Hause nicht mehr ausreichend versorgt werden können, damit ihre Kinder nicht belastet werden“, sagt die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele.

    • Ratgeber:

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    DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sieht das ähnlich. Sie fordert zusätzlich, dass die Einkommensgrenze automatisch jährlich angepasst werden solle, damit das Gesetz „zukunftsfest“ werde.

    Innerhalb der Koalition kann Sozialminister Heil Rückendeckung erwarten. CDU-Sozialexperte Peter Weiß betont sogar, dass die Union Heil „wiederholt aufgefordert“ habe, das Gesetz endlich vorzulegen. Nun sei es so weit, und der Koalitionsvertrag könne umgesetzt werden.