London. Boris Johnson, neuer Premier des Vereinigten Königreichs, hat im Parlament neue Verhandlungen des Brexit-Deals mit der EU gefordert.

Verschwunden die Lähmung, die während der letzten Tage der Regierung von Theresa May im Parlament herrschte. Mit Boris Johnson ist ein neuer Premier ins Amt gestürmt, der elektrisiert und polarisiert. Er verbreitet Euphorie bei seinen Gefolgsleuten und Abscheu bei seinen Gegnern. Kalt lässt er keinen. Am Donnerstag, dem letzten Sitzungstag vor der Sommerpause, ist das Unterhaus rappelvoll. Auf den Lederbänken drängen sich die Abgeordneten Oberschenkel an Oberschenkel, viele müssen stehen. Keiner will Johnsons erste Regierungserklärung verpassen.

„Unsere Mission ist es“, beginnt er, „den Brexit zu liefern und Großbritannien zum großartigsten Land der Erde zu machen.“ Ein Übermaß an Bescheidenheit hat man Johnson noch nie vorwerfen können. Er bekräftigt, dass er ein neues Austrittsabkommen mit der EU verhandeln will. Die Notfallregelung („Backstop“), eines der Kernstücke des zwischen Brüssel und London ausgehandelten Deals, müsse „abgeschafft“ werden.

Eine harte Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland soll so vermieden werden. Die Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Boris Johnson wir mit „freundlichem Temperament“ agieren

Er werde sich mit großer Energie, Entschlossenheit und „freundlichem Temperament“ in die Verhandlungen stürzen. Sollte Brüssel weiterhin stur bleiben, müsse Großbritannien halt die EU ohne einen Vertrag verlassen. Für dieses Szenario, so Johnson, sei man „besser vorbereitet, als viele denken“.

Seine harte Linie versucht Johnson zu versüßen, indem er den EU-Bürgern im Königreich ein Friedensangebot macht. Er verspricht ihnen „absolute Sicherheit des Rechts, in Großbritannien zu leben und zu arbeiten“. Doch ansonsten bleibt er kompromisslos. Er stellt die Zahlung der Scheidungsrechnung über mehr als 40 Milliarden Euro erneut infrage. Die allseits befürchteten chaotischen Konsequenzen eines ungeregelten Austritts wischt er mit einem fast manisch anmutenden Optimismus weg. Es gebe „viel zu viel Negativität im Land“.

Boris Johnson ist neuer Regierungschef – das muss man wissen

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    Auch bei der Zusammenstellung des Kabinetts zeigt sich Johnson kompromisslos – und radikal. Der neue Premier beginnt seine Amtszeit in der Nacht zum Donnerstag mit einer der einschneidendsten Kabinettsumbildungen der jüngeren Geschichte. Hat sein Vorgänger Harold Macmillan 1962 in der „Nacht der langen Messer“ noch den Rekord mit sieben Entlassungen gesetzt, so müssen jetzt 17 Kabinettsmitglieder die Regierung verlassen. Die britische Presse kommentiert das Revirement wahlweise mit „Kehraus“, „Blutbad“ oder „Massaker“.

    Vor einigen Wochen wurde Boris Johnson gefragt, was seine liebste Filmszene sei. „Die mehrfachen Vergeltungsmorde am Ende von ‚Der Pate‘“, antwortete er. Doch es wäre zu kurz gegriffen, die Entlassungen allein mit Rachsucht erklären zu wollen. Gewiss, wer ein May-Loyalist war, musste gehen. Das Leitmotiv für die Regierungsumbildung war: Es muss ein Team von Brexit-Hardlinern und Johnson-Fans werden. Eine Mannschaft, die sich dem Ziel verschrieben hat, den Brexit durchzuboxen.

    Bei einigen Minister-Ernennungen zuckten etliche mit den Augenbrauen. Priti Patel – sie wurde als Entwicklungsministerin von May entlassen, weil sie eine private Außenpolitik mit Israel betrieben hatte – kehrt in die Regierung zurück. Patel hat sich für die Todesstrafe ausgesprochen und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt. Jetzt wird sie ausgerechnet Innenministerin.

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    Eine Mannschaft, die an den Brexit glaubt

    Der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab, der während seiner kurzen Amtszeit nicht wusste, dass ein Großteil der britischen Importe durch das Nadelöhr Calais ins Land kommt, ist jetzt der neue Außenminister. Und Gavin Williamson, der ebenfalls von May gefeuert werden musste, nachdem er geheime Informationen aus dem Nationalen Sicherheitsrat an eine Zeitung durchgestochen hatte, bekommt das Ressort Bildung. Auch der Vorsitzende der Europahasser in der „European Research Group“, Jacob Rees-Mogg, erhält einen Job: Er wurde Leader of the House of Commons und muss die Parlamentsarbeit organisieren.

    Kommentar:

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    Johnson hat nicht versucht, in seinem Team eine Balance zwischen rechts und links zu finden. Er hat sich nicht um eine Geste der Versöhnung bemüht, indem er Rivalen in wichtigen Positionen belassen hätte. Stattdessen hat er eine Mannschaft um sich geschart, die leidenschaftlich an seinen Brexit-Plan glaubt. Alle mussten eine Verpflichtung unterschreiben, einen No-Deal-Brexit zu unterstützen. Besonders die Kollegen, die während der Referendumskampagne an seiner Seite im Brexit-Lager standen, wurden jetzt belohnt. Das gilt auch für die Schaltstellen der Macht innerhalb des Beamtenapparates. Mit Dominic Cummings zum Beispiel kommt ein umstrittener Stratege der Brexit-Kampagne als Chefberater in die Downing Street.

    All dies unterstreicht: Man braucht sich keine Illusionen zu machen. Der Rechtsruck in London ist vollzogen. Es sind unmissverständliche Signale, die der neue Premier sendet. Er denkt nicht daran einzulenken. Sein Gerede vom No Deal ist keine leere Drohung. Johnson meint es ernst. Er wird den Austritt aus der EU mit allen Mitteln fristgerecht zum 31. Oktober vorantreiben, auch wenn es ein ungeregelter Brexit wird. Manche seiner Kollegen wollen sogar, dass es ein EU-Ausstieg ohne Vertrag wird. Und die Beförderung des früheren Leiters der Brexit-Kampagne signalisiert: Wenn es sein muss, schreckt Johnson auch vor Neuwahlen nicht zurück.