Berlin . Nach dem Anschlag von Berlin wurde ein verdächtiger Islamist abgeschoben, ohne befragt zu werden. Horst Seehofer verteidigt die Aktion.

Der Verdacht wog schwer: Die deutschen Behörden sollen einen mutmaßlichen Helfer des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri in einer Blitz-Abschiebung außer Landes geschafft haben – um ihn vor einer Strafverfolgung zu schützen. Der Grund: Bilel Ben Ammar, so der Name des Islamisten, habe für den marokkanischen Geheimdienst gearbeitet.

Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 habe er einen Besucher mit einem Kantholz niedergeschlagen. Das Innenministerium habe trotzdem seine Abschiebung forciert. Haben deutsche Sicherheitsbehörden und die Justiz einen Terroristen geschützt, um einem Nachrichtendienst Ärger zu ersparen?

Mit der Berichterstattung des Nachrichtenmagazins „Focus“ vom Freitag vergangener Woche stand ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum. Innenminister Horst Seehofer sah sich zur Aufklärung veranlasst. Am Donnerstag wies er die Vorwürfe zurück.

Seehofer zu Ben Ammar : „Person mit hoher krimineller Energie“

Zu der Behauptung des „Focus“, Ben Ammar habe für den marokkanischen Geheimdienst gearbeitet, hätten die Behörden keine Erkenntnisse. Ob der Islamist für ein anderes Land tätig gewesen sei? „Mir ist da nichts bekannt“, sagte der CSU-Politiker. Auch die Behauptung, der angebliche Schlag Ben Ammars sei auf einem Video zu sehen, entbehrt laut Seehofer jeder Grundlage. Es gebe ein Video vom Anschlagsgeschehen von einer Kamera auf dem am Breitscheidplatz gelegenen Europa-Center. Die Identifizierung von Personen sei wegen der großen Entfernung aber nicht möglich. Ben Ammar oder das Niederschlagen einer Person seien nicht zu sehen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer am Donnerstag in Berlin.
Bundesinnenminister Horst Seehofer am Donnerstag in Berlin. © Reuters | FABRIZIO BENSCH

Von dem Amri-Freund Ben Ammar zeichnete Seehofer das Bild „einer Person mit hoher krimineller Energie“. Das Innenministerium, damals noch unter Führung von Seehofers Amtsvorgänger Thomas de Maizière (CDU), habe sich daher bemüht, den Tunesier schnell in sein Heimatland abzuschieben. „Wir waren froh, dass er weg ist“, sagte damals auch ein mit dem Fall betrauter Beamter.

Asylantrag von Ben Ammar wurde 2016 abgelehnt

Bilel Ben Ammar war bereits im Oktober 2014 mit sechs weiteren Personen nach Deutschland eingereist. Die Gruppe geriet schnell in den Fokus der Anti-Terror-Fahnder. Nach Informationen der „Berliner Morgenpost“ und des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) war Ben Ammar schon im September 2015 Thema im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Das BKA verdächtigte ihn der Planung eines Anschlags. Als gewaltbereiter Islamist wurde Ben Ammar also bereits damals eingeschätzt. Am 11. Februar 2016 wurde zudem bereits sein Asylantrag abgelehnt.

Die Abschiebung forcierten die Behörden aber erst nach dem Anschlag. Der damalige sächsische Innenminister Markus Ulbig, dessen Bundesland für die Abschiebung zuständig war, wandte sich am 24. Januar 2017 sogar persönlich an seinen Amtskollegen Thomas de Maizière. „Lieber Thomas“, heißt es in dem Schreiben, das der „Morgenpost“ und dem RBB vorliegt. Ulbig bat, eine Zuständigkeit des Bundes für die Abschiebung zu prüfen. Das Innenministerium unterstützte nach Kräften. Staatssekretärin Emily Haber sprach persönlich beim tunesischen Botschafter vor, um die Beschaffung von Ersatzpapieren zu beschleunigen. In einer Mail an die Staatssekretärin heißt es zudem, die Vorwürfe, die Tunesien gegen Ben Ammar erhebe, wögen nicht sehr schwer, „sodass vielleicht nicht unbedingt die Todesstrafe droht“.

Seehofer: Generalbundesanwalt hat Abschiebung zugestimmt

Sinnvolle Anstrengungen als Schutz vor einem weiteren Anschlag? Vom 4. Januar 2017 bis zur Abschiebung am 1. Februar war Ben Ammar wegen des Verdachts des Sozialhilfebetrugs in Haft. Einen Anschlag hätte er aus der Zelle kaum begehen können. Die U-Haft hätte aber wenige Tage nach der Abschiebung geendet. Ob ein Richter den Beschluss verlängert hätte oder man Ben Ammar wegen des Verdachts der Mittäterschaft am Breitscheidplatz-Anschlag hätte inhaftieren können, bleibt Spekulation.

Seehofer verwies denn auch darauf, dass Ben Ammar kurz vor der Entlassung stand und sich Ermittlungen durch Flucht hätte entziehen können. Die Entscheidung für die Abschiebung sei eine Abwägung gewesen. Er halte sie für „nachvollziehbar“. Der Generalbundesanwalt habe der Abschiebung zugestimmt.

• Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 in Bildern:

Klar ist: Keine sechs Wochen nach dem Anschlag war Amris Kontaktperson weg. Wichtige Fragen konnte Ben Ammar nicht mehr beantworten. Etwa zu den bereits im Februar 2016 aufgenommenen Fotos vom Breitscheidplatz, die Ermittler nach der Abschiebung auf seinem Handy fanden. Spähte Ben Ammar den Anschlagsort aus? Die Frage bleibt offen. Unklar ist auch, was genau Ben Ammar und Anis Amri am Tag vor dem Anschlag bei einem gemeinsamen Essen in einem Imbiss in Berlin-Wedding besprachen.

Hatten die Terroristen einen weiteren Weihnachtsmarkt im Visier?

Auf dem Handy von Ben Ammar stellten die Ermittler ein weiteres auffälliges Foto sicher: vom Spandauer Weihnachtsmarkt. Mutmaßlich er selbst hatte die Aufnahme am späten Nachmittag des Anschlagtags gemacht – und nur einen Tag nachdem er sich mit Amri getroffen hatte. Hatte Ben Ammar auch den Spandauer Weihnachtsmarkt im Visier?

Aus Sicht der Opposition ist es nicht die einzige Frage, die offen bleibt. Die Ausschuss-Obfrau der Grünen, Irene Mihalic, sagte, es sei ihr „schleierhaft“, wie Seehofer zu der Aussage käme, man habe Ben Ammar eine Beteiligung am Anschlag nicht nachweisen können. Der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser kritisierte, dass Ben Ammar nach nur zwei Vernehmungen in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ abgeschoben worden sei. Die Linke-Obfrau Martina Renner sagte: „Wenn sich herausstellen sollte, dass Ben Ammar doch in den Anschlag verwickelt war, würde dies keine der handelnden Personen politisch überleben.“

Die Abgeordneten wollen Ben Ammar nun als Zeugen im Untersuchungsausschuss vernehmen. Ob er ausfindig gemacht werden kann, ist offen. Seehofer sagte: „Mir ist momentan der Aufenthalt nicht bekannt.“