Brüssel. Die Trump-Regierung will den INF-Abrüstungsvertrag in der nächsten Woche kündigen. Es droht ein neues atomares Wettrüsten in Europa.

Heiko Maas gibt nicht auf. Bis zur letzten Minute versucht der deutsche Außenminister, als Pendeldi­plomat die Regierungen der USA und Russlands doch noch zu einer Verständigung im gefährlichen Atom-Raketenstreit zu bringen. Es gehe um die Sicherheit Europas, warnte der SPD-Politiker in der Nacht zum Donnerstag in Washington.

Maas malt schon düster die Gefahr aus: Ein neues atomares Wettrüsten drohe auf dem Kontinent – das unbedingt verhindert werden müsse. Doch der Einsatz des Ministers ist wohl vergebens. In der Nato wird nach Informationen unserer Redaktion inzwischen fest damit gerechnet, dass die USA den INF-Abrüstungsvertrag kündigen.

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kurz danach werde das Aus verkündet, heißt es in Brüssel. Die Auflösung des Vertrags, der 1987 das Ende des Kalten Krieges einläutete, wäre eine Zäsur – mit dramatischen Folgen vor allem für Europa.

Nato-Strategen sehen bereits eine neue, ernsthafte russische Bedrohung. Droht jetzt der Rückfall in den Kalten Krieg? Unsere Redaktion erklärt, was auf dem Spiel steht:

Warum ist der INF-Vertrag für Europa so wichtig?

Mit dem INF-Vertrag beendeten die USA und die damalige Sowjetunion vor gut 30 Jahren den Rüstungswettlauf in Europa. Mit den Unterschriften von US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow verpflichteten sich beide Seiten, alle landgestützten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern zu zerstören.

Das erste und einzige Mal wurde eine ganze Kategorie von Atomwaffen abgeschafft – 3000 Raketen wurden bis 1991 verschrottet, auch die in Deutschland stationierten Pershing II. Für Europa war das ein Durchbruch: Die Raketen waren vor allem auf europäische Ziele gerichtet – und bedrohten auch das damals geteilte Deutschland.

Warum wollen die USA den INF-Vertrag kündigen?

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Die Russen hätten landgestützte Marschflugkörper (Nato-Code SS-C-8), die bis zu 2400 Kilometer weit fliegen könnten, getestet und stationiert – nach US-Geheimdienstinformationen in Jekatarinburg östlich des Ural und auf einem Testgelände am Kaspischen Meer.

US-Präsident Donald Trump.
US-Präsident Donald Trump. © Reuters | YURI GRIPAS

US-Präsident Donald Trump und seine Militärs verlangen die nachprüfbare Zerstörung des Raketen-Systems. „Russland hat die Vereinbarung leider nicht eingehalten“, sagte Trump. Und drohte: „Also werden wir die Vereinbarung beenden und dann werden wir die Waffen entwickeln.“

Amerikas Nato-Partner stellten sich nach längerem Zögern klar hinter die Vorwürfe. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte: „Letztlich geht es um Europa, weil diese Marschflugkörper nur europäische Städte erreichen können. Sie erhöhen damit das Risiko eines begrenzten Atomkrieges in Europa.“

Was sagt Russland?

Die russische Regierung hat die Existenz eines neuen Raketensystems längere Zeit geleugnet. Jetzt behauptet Moskau, die Raketen reichten in einer veränderten Version nur weniger als 500 Kilometer weit, womit sie nicht gegen den INF-Vertrag verstoßen würden. Am Mittwoch präsentierte die russische Armee vor ausländischen Militär-Abgesandten und Journalisten erstmals einige Details: Demnach kann die Rakete vom Typ Iskander-K 9M729 maximal 480 Kilometer weit fliegen.

Doch die Angaben lassen sich nicht überprüfen. Die Rakete selbst gab es bei dem Termin nicht zu sehen. Selbst Außenminister Maas reagierte in Washington enttäuscht und meinte, dies sei nicht die geforderte Transparenz. Die USA wollen sich ohnehin nicht mit bloßem Augenschein zufriedengeben, wie sie bei einem Nato-Treffen kürzlich bekräftigten.

„Eine Besichtigung bringt keinen Aufschluss darüber, wie weit die Rakete fliegen kann“, sagt ein US-Militärdiplomat. Notwendig seien Flugtests ohne russische Kontrolle, doch die sind nicht in Sicht. Moskau erhebt stattdessen Gegenvorwürfe an die USA: Die Amerikaner verletzten den Vertrag etwa mit dem Einsatz von Langstreckendrohnen oder der Stationierung von Abwehrraketensystemen in Rumänien, die auch für Offensivzwecke genutzt werden könnten.

Washington bestreitet das. Ein letztes hochrangiges Treffen von Militärs beider Seiten vorige Woche in Genf verlief nach Teilnehmerangaben zwar in sachlicher, professioneller Atmosphäre, aber ohne Ergebnis.

Droht jetzt ein neues Wettrüsten?

Das ist zu befürchten. Wenn die USA den INF-Vertrag Ende nächste Woche kündigen, hat Russland noch sechs Monate Zeit, um den Vorwurf des Vertragsbruchs auszuräumen. Endgültig kollabiert wäre der Vertrag dann im August. Russland hätte danach einen zeitlichen Vorsprung, seine Mittelstreckenraketen offen zu stationieren.

Experten gehen davon aus, dass sich die Waffen nicht vorrangig gegen europäische Ziele richten müssten – vermutlich will sich Moskau auch gegen atomare Aufrüstung in Asien, vor allem Chinas und Indiens, wappnen. Dennoch sind Nato-Militärs hoch besorgt: Die landgestützten Marschflugkörper, die auf mobilen Startrampen montiert sind, wären ein Pro­blem für jede Abwehr.

Sie könnten innerhalb weniger Minuten europäische Metropolen zerstören. Mobil, schnell verlegbar, gut getarnt stellen sie eine ernsthafte Bedrohung dar, heißt es unter führenden Militärs. Die USA müssen neue landgestützte Systeme erst noch entwickeln, was Jahre dauern dürfte; entsprechende Pläne gibt es aber bereits. Ohnehin bauen die USA ihr Arsenal an seegestützten Mittelstreckenraketen aus.

Und ähnlich wie Russlands Präsident Putin hat auch US-Präsident Trump eine Modernisierung des Atomwaffen-Arsenals längst angekündigt. Die USA verfügen aktuell über 6800 Atomsprengköpfe, Russland über 7000 – zusammen macht das rund 90 Prozent der Atomwaffen weltweit.

Donald Trump - Vom aufmüpfigen Jungen zum US-Präsidenten

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    Kommen neue Atomraketen nach Deutschland?

    Eine neue Nachrüstungsdebatte dürfte bevorstehen. Dass sie mit der Stationierung von Atomraketen in Deutschland endet, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn die USA in Europa aufrüsten wollten, bräuchten sie für die Raketen-Stationierung die Zustimmung des jeweiligen Landes.

    Deutschland und andere Nato-Länder sehen einen solchen Schritt aber schon jetzt sehr kritisch. Allerdings dürfte die veränderte Sicherheitslage dazu führen, dass die derzeit noch in Deutschland gelagerten US-Atomraketen auch hier bleiben; in Büchel in Rheinland-Pfalz lagern etwa 20 Atombomben vom Typ B61, die im Kriegsfall von Bundeswehr-Tornados abgeworfen werden könnten.

    Bemühungen früherer Bundesregierungen, die USA zum Abzug dieser Waffen zu drängen, sind wohl hinfällig. Wie die Nato auf eine neue atomare Bedrohung durch Russland reagieren würde, soll offiziell erst diskutiert werden, wenn der INF-Vertrag endgültig gescheitert ist. Aber die Analyse ist klar: Moskau könne die Fähigkeit ausbauen, einen konventionellen Angriff etwa auf das Baltikum durch einen regional begrenzten Atomwaffeneinsatz mit Mittelstreckenraketen abzusichern, heißt in Nato-Kreisen.

    Die Frage sei dann, ob die Drohung mit amerikanischen Langstreckenwaffen glaubwürdig sei – oder ob Moskau kalkuliere, dass sich die USA am Ende heraushalten. Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagt: „Wir werden nicht überreagieren, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als zu reagieren“.

    Welche Schritte werden diskutiert?

    Geprüft werden nach Informationen unserer Redaktion zwei Varianten: Zum einen könnten amerikanische Raketenabwehrsysteme in Europa modernisiert und ihre Ziele auf die Abwehr von russischen Raketen eingerichtet werden – bislang sollen sie gegen Angriffe aus dem Nahen Osten schützen.

    Diese Umrüstung würde Jahre dauern und Milliarden kosten. Die andere Variante sieht die Aufrüstung mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa vor, womöglich ergänzt durch see- und luftgestützte Systeme. Überlegt wird in der Nato auch die Verstärkung konventioneller Truppen – die rotierende Präsenz von Nato-Truppen in Osteuropa würde erhöht.

    Doch Außenminister Maas hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass eine neue Aufrüstungsrunde vermieden werden kann: Er will den INF-Vertrag und neue Abrüstungsinitiativen demnächst im UN-Sicherheitsrat erörtern.