Berlin. Katrin Göring-Eckardt fordert weiterhin ein Engagement der Bundesregierung für Ostdeutschland. „Ossis sind nicht dümmer“, sagt sie.

Sie hätte gerne regiert, ein Bündnis mit Union und FDP wäre an ihr nicht gescheitert. Nun aber setzt die große Koalition ihr Werk fort, und Katrin Göring-Eckardt bereitet sich auf das besondere Wahljahr 2019 vor, das die Bürger auch in ihrer Thüringer Heimat abstimmen lässt.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag hat für das Interview einen Ort ganz in der Nähe ihrer Berliner Wohnung gewählt: das Cafe Dujardin im Stadtteil Wedding.

Bei der Bundestagswahl haben die Grünen mit Ihnen als Spitzenkandidatin gerade 8,9 Prozent geholt – jetzt liegt Ihre Partei in den Umfragen mit 20 Prozent auf Platz zwei hinter der Union. Können Sie sich den Höhenflug erklären?

Katrin Göring-Eckardt: Wir zeigen Haltung und sprechen Themen an, die für die Leute wichtig sind. In den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition haben wir bewiesen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das honorieren die Leute – gerade auch angesichts der dürftigen Vorstellung der Regierungskoalition aus Union und SPD.

Andere sagen, der Erfolg habe zwei Namen: Annalena Baerbock und Robert Habeck. Nervt Sie das?

Göring-Eckardt: Ja, stimmt – und nein, überhaupt nicht. Ich kann mich an keine bessere Zeit mit der Partei erinnern. Unsere Parteivorsitzenden sind die Richtigen zur richtigen Zeit.

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    Wann wird es Zeit für einen grünen Kanzlerkandidaten?

    Göring-Eckardt: Sie haben ja gerade angesprochen, was parteipolitisch allein im letzten Jahr passiert ist, und die nächste Bundestagswahl ist voraussichtlich erst in zweieinhalb Jahren. Die Europawahlen im Mai werden ein Gradmesser sein, wo die Parteien wirklich stehen.

    Bewerben Sie sich um die Kanzler- beziehungsweise Spitzenkandidatur?

    Göring-Eckardt: Nein. Ich war zweimal Spitzenkandidatin und es war eine tolle Aufgabe. Aber beim nächsten Mal machen das andere.

    Die Grünen erheben neuerdings Forderungen, wie man sie sonst von SPD oder Linkspartei kennt – etwa nach einer Abschaffung von Hartz IV. Wollen Sie Sahra Wagenknecht überflüssig machen und eine linke Sammlungsbewegung anführen?

    Göring-Eckardt: Wir sind keine Sammlungsbewegung. Wir sind eine Partei und verhalten uns auch so. Sahra Wagenknecht versucht sich gerade am Sowohl-als-auch. Damit schadet sie ihrer Partei und auch ihrer Sammlung mehr als sie hilft. Als im Oktober 250.000 Menschen in Berlin für eine weltoffene Gesellschaft demonstrierten, blieb Sahra Wagenknechts „Aufstehen“ liegen. Diese Bewegung bewegt nichts.

    Wir haben nach den Grünen gefragt.

    Göring-Eckardt: Ich würde uns Grüne als Bündnispartei bezeichnen, so wie es unser Name Bündnis 90/Die Grünen anzeigt: Wir wollen Bündnisse schmieden mit denjenigen, die mit unserer Partei erst einmal nichts am Hut haben, aber unsere Inhalte teilen. Wir wollen Armut bekämpfen, bessere Bedingungen in der Pflege und gleiche Chancen für alle Kinder schaffen – egal, welchen Namen oder welche Hautfarbe sie haben.

    Sehen Sie Deutschland als gerechtes Land?

    Göring-Eckardt: Im Verhältnis zu manch anderen Ländern – ja. Aber so direkt gefragt: Nein, Deutschland ist kein gerechtes Land. Das kann man schon festmachen an der Frage: Wer zahlt Steuern und wer nicht? Das kleine Eck-Cafe zahlt fleißig Steuern, Starbucks aber rechnet sich künstlich arm. Ungerecht ist auch, dass die soziale Herkunft ganz wesentlich über den beruflichen Erfolg entscheidet.

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      Empfinden Sie den deutsche Osten als benachteiligt?

      Göring-Eckardt: Der Osten ist im Nachteil. Ein Beispiel: 1992 hat der Bundestag beschlossen, dass Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen bevorzugt im Osten entstehen sollen. Damit wollte man den Standort aufwerten. Was ist geschehen? 20 Einrichtungen hat die Bundesregierung seither im Westen angesiedelt, nur fünf im Osten – zuletzt das Bundesfernstraßenamt in Leipzig. Und selbst diese Institutionen werden in der Regel von Westdeutschen geführt. Das liegt nicht daran, dass die Ossis dümmer wären oder die falsche Ausbildung hätten. Mit solchen Benachteiligungen muss Schluss sein.

      Was schlagen Sie vor?

      Göring-Eckardt: Die Bundesregierung muss sich verpflichten, ab sofort jede neue Bundesbehörde und jede neue Forschungseinrichtung in Ostdeutschland anzusiedeln. Bis der Osten hier aufgeholt hat, wird es lange dauern. In Ostdeutschland können auch Modellregionen entstehen. Gerade in strukturschwachen Regionen könnten Digitalisierung, Mobilität, Infrastruktur, Kultur in besonderer Weise gefördert werden. Und es muss aufgebrochen werden, dass selbst im Osten die meisten Führungspositionen nicht von Ostdeutschen besetzt sind. Wir haben gute Erfahrung mit Bevorzugung bei gleicher Qualifikation gemacht. Das könnte eine Möglichkeit für ostdeutsche Verwaltungen sein. Es braucht eine Gesamtstrategie für Ostdeutschland.

      Was soll dabei aus dem Solidaritätszuschlag für den Aufbau Ost werden?

      Göring-Eckardt: Der Solidaritätszuschlag sollte in Zukunft strukturschwachen Regionen in ganz Deutschland zugutekommen, unabhängig von der Himmelsrichtung. Es kann nicht darum gehen, jetzt alle Mittel nach Nordrhein-Westfalen oder ins Saarland umzuleiten. Der Soli muss weiter auch dem Osten helfen. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West haben.

      Der Mindestlohn steigt – und bringt so manches Unternehmen in Bedrängnis. Behindert das nicht die Entwicklung im Osten?

      Göring-Eckardt: Ganz ehrlich: Als Ostdeutsche war ich beim Mindestlohn anfangs skeptisch. Aber es hat sich gezeigt, dass er gerade nicht zu Arbeitsplatzverlusten führt. Ich bin dafür, den Mindestlohn mit zusätzlichen Kriterien festzusetzen. Das entscheidende Kriterium muss sein, dass man vom Mindestlohn leben kann. Es bringt ja nichts, wenn der Staat den Lohn mit Hartz IV aufstocken muss.

      Was genau schwebt Ihnen vor?

      Göring-Eckardt: Ich halte eine Mindestlohn-Reform für geboten. Die unabhängige Kommission, die alle zwei Jahre die Lohnuntergrenze bestimmt, darf sich nicht nur an der Tarifentwicklung orientieren. Sie sollte sich auch von der Frage leiten lassen, wie der Lebensstandard gesichert und Armut vermieden werden kann. Wir können es uns nicht leisten, dass immer mehr Menschen in Armut fallen.

      Wie hoch soll der Mindestlohn dann werden?

      Göring-Eckardt: Das ist Sache der Mindestlohnkommission. Ich steige nicht in den Überbietungswettbewerb von SPD und Linkspartei ein.

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      Göring-Eckardt: Wir müssen klare Kante zeigen, ohne uns von der AfD die Agenda diktieren zu lassen. Rechtsradikale Äußerungen werden wir nicht hinnehmen.

      Klingt etwas hilflos.

      Göring-Eckardt: Nein. Die Demokraten sind in der Mehrheit. Ich habe keine Angst vor der AfD.

      Glauben Sie den Beteuerungen der Union, mit der AfD unter keinen Umständen zusammenzuarbeiten?

      Göring-Eckardt: Frau Kramp-Karrenbauer sagt, dass sie mit der AfD nichts zu schaffen haben will – und ich glaube, dass die neue CDU-Chefin da ehrlich ist. Aber ich befürchte, dass sich einzelne Landespolitiker im Zweifel nicht darum scheren. Die jüngsten Äußerungen aus Brandenburg finde ich beunruhigend. Ich will jetzt von jedem CDU-Spitzenkandidaten wissen, wie er es mit der AfD hält und ob er eine Zusammenarbeit kategorisch ausschließt.

      Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder an der Spitze von CDU und CSU anstelle von Angela Merkel und Horst Seehofer – erleichtert oder erschwert das schwarz-grüne Bündnisse?

      Göring-Eckardt: Einfacher wird Schwarz-Grün auf keinen Fall. Frau Kramp-Karrenbauer ist noch weniger liberal und weniger umweltbewusst als Frau Merkel. Sie hält nichts von der Ehe für alle, und die erneuerbaren Energien sind im Saarland kaum vorangekommen. Bei Markus Söder weiß ich einfach nicht, wofür er steht. Er ist sehr wandlungsfähig, um es vorsichtig zu sagen. Ob man mit den beiden zusammenarbeiten kann, muss sich noch herausstellen.