Wiesbaden/Berlin. Bei der Wahl in Hessen geht es nicht nur um den neuen Landtag. Wir zeigen, wo die Parteien etwas zu verlieren haben – oder zu gewinnen.

Wer in Hessen eine Wahlparty zu früh verlässt, kann Entscheidendes verpassen. Vor vier Jahren war erst um 2.30 Uhr klar, dass die FDP im Wahlkreis Rheingau-Taunus II die entscheidenden 920 Stimmen geholt hatte. Die Liberalen schafften es mit 5,0 Prozent erneut in den Landtag. Auch die Linke war wieder drin, Volker Bouffier (CDU) blieb Ministerpräsident, tauschte den Juniorpartner FDP gegen die Grünen aus.

Auch für diesen Sonntag sagen Umfragen einen nervenaufreibenden Abend voraus

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Viele der 4,38 Millionen wahlberechtigten Hessen gelten als unentschlossen.

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mit noch nicht absehbaren Folgen für das Spitzenpersonal in Berlin und im Land.

Angela Merkel: Vor dem Finale musste die Kanzlerin noch ein bisschen die Welt retten. Während die Prominenz anderer Parteien am Sonnabend bei großen Abschlusskundgebungen in Hessen auftrat, flog Merkel zum Syrien-Gipfel nach Istanbul. Am Sonntag wird sie dann in Berlin analysieren, was in Wiesbaden die Stunde geschlagen hat.

Angela Merkel und Volker Bouffier (beide CDU) bei einer Wahlkampfveranstaltung in Fulda.
Angela Merkel und Volker Bouffier (beide CDU) bei einer Wahlkampfveranstaltung in Fulda. © Getty Images | Thomas Lohnes

Kann Volker Bouffier dank seines Amtsbonus die Wahl auf den letzten Metern für sich entscheiden, dürfte das Merkels Lage entspannen. Umgekehrt sind viele in der CDU davon überzeugt, dass die Vorsitzende eine Abwahl des hessischen Ministerpräsidenten politisch nicht lange überleben wird. Aber das prophezeiten viele nach der Ablösung Volker Kauders von der Spitze der Unionsfraktion und vor der Bayern-Wahl ebenso. Merkel ist immer noch da. In der CDU sind die Zweifel jedoch groß, ob unter ihrer Führung Werte oberhalb von 30 Prozent je wieder erreichbar sind.

Vor Wochen machte Merkel deutlich, dass sie beim Parteitag im Dezember für den CDU-Vorsitz antreten will. Auffällig ist, wie sich „Kronprinzessin“ Annegret Kramp-Karrenbauer positioniert. „AKK“ bringt Neuwahlen ins Spiel, falls die GroKo platzt. Wagen sich dann als mögliche Merkel-Nachfolger auch Gesundheitsminister Jens Spahn oder NRW-Ministerpräsident Armin Laschet aus der Deckung?

Merkel: Müssen Rot-Rot-Grün in Hessen verhindern

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    Die 48-Jährige ist erst seit April Parteichefin. Mit dem Versprechen, die SPD in der Regierung zu erneuern, bewegte sie zwei Drittel der Mitglieder zu einem Ja zur ungeliebten GroKo. Spätestens nach dem Bayern-Desaster (9,7 Prozent) fühlen sich aber die Gegner bestätigt, dass die SPD sich als Merkels Juniorpartner zu Tode regiert.

    Erste Genossen fordern einen neuen Mitgliederentscheid, um über einen Ausstieg abzustimmen. Nahles will die Koalition fortsetzen. Schafft es die SPD, in die Regierung zu kommen oder sogar den Ministerpräsidenten zu stellen, würde das Nahles Luft verschaffen.

    Volker Bouffier: Der dienstälteste aller Ministerpräsidenten möchte noch eine Runde drehen, am liebsten in der bewährten Koalition mit den Grünen, ansonsten erweitert um die FDP. Eine große Koalition mit der SPD könnte ebenfalls klappen. Aber wollen die Hessen Bouffier behalten? Nach letzten Umfragen könnte seine CDU bei 28 Prozent und damit rund zehn Punkte unter dem Ergebnis von 2013 liegen. Oder trägt ihn das beschworene „Schreckgespenst Linksruck“ noch über 30 Prozent? Bei einer Wahlniederlage dürfte die Karriere des 66-Jährigen vorbei sein.

    Thorsten Schäfer-Gümbel Er versucht zum dritten Mal, Ministerpräsident zu werden. Im Wahlkampf trommelte er für mehr bezahlbare Wohnungen. Der stellvertretende SPD-Chef ist ein Leisetreter, der mit Inhalten überzeugen will. Er kämpft mit den Grünen um Platz zwei, der in einer Koalition mit Linken oder FDP für den Chefsessel in der Staatskanzlei reichen könnte. Kommt es zu einer Koalition mit der CDU, könnte „TSG“ Finanz- oder Wirtschaftsminister werden. Mit 49 wäre er jung genug, in fünf Jahren noch einmal anzutreten.

    Robert Habeck: Die Grünen sind die Partei der Stunde. Nach den 17,5 Prozent in Bayern hofft Robert Habeck auf ein noch besseres Ergebnis in Hessen. Der ehrgeizige Grünen-Chef und seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock wollen ihre Partei zur „führenden Kraft der linken Mitte“ machen, ein gutes Ergebnis in Hessen – vor allem, wenn die Umweltpartei vor der SPD liegt – wäre ein großer Schritt in diese Richtung. Habeck kritisierte kurz vor dem Wahltag das Management der großen Koalition in der Flüchtlingspolitik. Die Bundesregierung habe „viel zu lange nach dem Prinzip Kopf in den Sand agiert“, sagte Habeck der „Bild“. Der Syrienkrieg sei bereits vor 2015 eskaliert und die Lage in den Flüchtlingslagern immer dramatischer geworden, „aber die Bundesregierung hat Warnungen ignoriert und das Land nicht vorbereitet“.

    Tarek Al-Wazir: Der Grünen-Spitzenkandidat könnte nach Winfried Kretsch­mann der zweite grüne Ministerpräsident in Deutschland werden. Dafür müsste er vor der SPD ins Ziel gehen – und mit SPD und FDP oder SPD und Linke ein Bündnis schmieden. Feiern dürfte Al-Wazir am Wahlabend auf jeden Fall: Während seine Grünen vor fünf Jahren 11,1 Prozent holten, sehen Umfragen sie aktuell bei 20 Prozent.

    Alexander Gauland: Der Parteivorsitzende kann sich am Sonntag zurücklehnen und auf die ersten Hochrechnungen warten. Die AfD wird mit der Hessen-Wahl die „16 vollmachen“ – und in allen deutschen Parlamenten mit einer eigenen Fraktion vertreten sein. Auf dem Spiel steht für die rechtspopulistische Partei in Hessen nichts – ausgeschlossen, dass jemand mit ihnen koaliert.

    Christian Lindner: Der FDP-Chef steht seit seiner nächtlichen Flucht aus den Jamaika-Sondierungen in der Kritik. In Hessen will er es nun besser machen. Er hofft auf eine Regierung mit CDU und Grünen – wie in Schleswig-Holstein, wo Jamaika unter Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) gut funktioniert. Eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP hat Lindner so gut wie ausgeschlossen.

    Dietmar Bartsch: Die Linke hat es bisher nicht geschafft, im Westen Fuß zu fassen. Sie wird vor allem als Ostpartei wahrgenommen, stellt in Thüringen den Ministerpräsidenten und regiert in Brandenburg und Berlin mit. Das könnte sich nun ändern. Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch hofft auf eine rot-rot-grüne Mehrheit im hessischen Landtag. Für die Linke wäre es die erste Regierungsbeteiligung im Westen.