Fulda/Berlin. Mehr als 3677 Minderjährige missbraucht: Kardinal Marx entschuldigt sich. Politiker fordern härteren Umgang mit Tätern.

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“, sagt Kardinal Reinhard Marx. „Ich schäme mich.“ Die Kirche habe geleugnet und vertuscht. „Wir haben zu lange weggeschaut.“ Um die Institution Kirche zu schützen, um die Täter zu schützen.

Es sind starke Worte, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz an diesem Dienstag findet. Sein Blick geht geradeaus, die Mimik ist minimal, das Gesicht leicht gerötet.

Kurz hält er das 356 Seiten starke Dokument über Tausende kirchliche Missbrauchsfälle hoch, blickt in die Kameras. Er spricht von seiner Hoffnung, dass mit diesem Tag ein „Wendepunkt“ erreicht sei.

Dass die Kirche wieder neues Vertrauen aufbauen könne. Aber er weiß auch: „Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe Verständnis dafür.“

Bei 4,4 Prozent aller Kleriker Hinweise auf Täterschaft

Es sind erschütternde Zahlen, die die Autoren der Studie an diesem Mittag vorstellen: Die Untersuchung zum Ausmaß des Missbrauchs in der

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belegt, dass zwischen 1946 und 2014 mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 Minderjährige missbraucht haben sollen.

Insgesamt fanden sich bei 4,4 Prozent aller Kleriker Hinweise auf solche Taten. Für die Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ werteten Wissenschaftler aus Mannheim, Heidelberg und Gießen mehr als 38.000 Akten der deutschen Bistümer aus.

Kardinal Marx stellt Missbrauchsstudie in Fulda vor

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    Doch nicht allein diese Zahlen sind der Grund, warum Opferverbände, Betroffene und Journalisten diesmal zur Herbsttagung der deutschen Bischöfe nach Fulda gereist sind.

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    .

    Es geht an diesem Tag um zwei Dinge: das, was die Wissenschaftler neben den puren Falldaten herausgefunden haben, und das, was die Bischöfe dazu sagen.

    1670 Täter und eine beträchtliche Dunkelziffer

    Mehr als eine halbe Stunde lang spricht Studienautor Harald Dreßing über Ungeheuerliches. Er sei persönlich „erschüttert“ über das Ausmaß der Missbrauchsfälle und den Umgang damit, schickt der Psychiater voraus.

    Die Zahl der 1670 Täter sei die „untere Schätzzahl“, die tatsächliche Anzahl liege wohl deutlich darüber. „Wir müssen von einem beträchtlichen

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    ausgehen.“ Kardinal Marx sitzt die ganze Zeit neben ihm. Schließt mal die Augen, presst dann wieder die geschlossene Faust vor den Mund, stützt schließlich den Kopf in die Hand und schaut nach unten.

    In zwei Bistümern Akten vernichtet

    Die Forscher hatten keinen freien Zugang zu den Archiven der 27 deutschen Bistümer, aber immerhin Einsicht in Zehntausende Personal- und kirchenrechtliche Strafakten. In zwei Bistümern seien Akten zuvor vernichtet worden, sagt Dreßing, andere Bistümer hätten solche Aktionen zumindest nicht ausschließen können.

    In einigen Fällen fanden die Forscher selbst Hinweise auf Manipulationen. Lücken gibt es auch anderswo: Der Auftrag der Studie beschränkte sich ausschließlich auf Missbrauchsfälle in Bistümern, die deutschen Orden und ihre Einrichtungen waren nicht dabei.

    Die meisten Opfer waren Jungen, oft jünger als 13 Jahre

    Die Auswertung der zugänglichen Fälle ergab ein klares Bild kirchlicher Missbrauchsstrukturen: Die meisten Opfer waren Jungen, die große Mehrzahl jünger als 13 Jahre. Die Täter dagegen waren in der Regel zwischen 30 und 40 Jahre alt.

    In der überwiegenden Zahl der Fälle missbrauchten die Peiniger ihre Opfer mehrfach, im Schnitt zog sich der Missbrauch über 15 Monate hin. In rund 15 Prozent der Fälle kam es zu vollzogenen Vergewaltigungen.

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      Bei knapp jedem dritten Täter gab es Hinweise auf eine pädophile Neigung. Bei vielen Tätern spielten offenbar auch eine verleugnete Homosexualität, Alkohol und Vereinsamung eine Rolle.

      Einige Täter nutzten die Beichte zur eigenen Entlastung, blieben unbehelligt und machten weiter. Andere nutzten den Beichtstuhl für sexuelle Annäherungen oder auch zur Verschleierung sexueller Übergriffe.

      Schutz der Institution stand vor Schutz der Opfer

      In jedem vierten Fall endete das Bekanntwerden des Missbrauchs ohne jegliche Sanktion. In

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      – oft nicht einmal in ein anderes Bistum, sondern innerhalb des alten Wirkungsbereichs.

      Informationen über den Täter wurden dabei oft nicht weitergegeben. „Der Schutz der Institution hatte Vorrang vor dem Schutz der Interessen der Opfer“, konstatiert Dreßing. Besonders bitter für die Forscher: Zum Zeitpunkt ihrer Recherchen, und damit viele Jahre nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle, hatten noch längst nicht alle Kleriker Präventionsschulungen gemacht.

      Missbrauch kein abgeschlossenes Thema

      Dabei sei der Missbrauch in der katholischen Kirche keineswegs abgeschlossen: Es gebe keinen Anlass zu der Annahme, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt“, schreiben die Forscher in ihrer Studie.

      Matthias Katsch, Betroffener und Sprecher der Initiative Eckiger Tisch, hat gehört, was Forscher und Kardinal zu sagen hatten. „Die Betroffenheit war im Raum zu spüren“, räumt er ein. Aber er sagt auch: „Die Intention der Studie war ganz klar: die Daten so zu anonymisieren, dass man nicht mehr zurückverfolgen kann, welcher Bischof für was ver­antwortlich ist – und in welchen Bistümern Täter besonders geschützt wurden.“

      Taten melden und Täter zur Verantwortung ziehen

      Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) forderte die Bistümer und Orden auf, jede Tat anzuzeigen. „Der Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn ihm Taten gemeldet werden.“ Zudem müsse die Kirche unabhängige Untersuchungen sicherstellen.

      Auch Familienministerin Franziska Giffey (SPD) verlangte von der Kirche, härter gegen Täter vorgehen: „Der Gedanke, dass noch heute Menschen in der katholischen Kirche Verantwortung tragen, die Kinder sexuell missbraucht haben, ist unerträglich.“