Berlin . Der Verfassungsschutz regte einer verstärkte Überwachung von Anis Amri an. Die Grünen werfen Maaßen in dem Fall jetzt sogar Lügen vor.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spielte im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri offenbar eine aktivere Rolle als von der Behörde behauptet. Recherchen der „Berliner Morgenpost“, des ARD-Magazins „Kontraste“ und des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) zufolge veranlasste der Nachrichtendienst operative Maßnahmen im Fall Amri. BfV-Präsident

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hatte die Ermittlungen zu dem tunesischen Islamisten als Polizeifall dargestellt und versichert, dass sein Amt keine eigenen Informationen beschafft habe.

Behördeninterne Dokumente zeigen jedoch, dass der Inlandsgeheimdienst durchaus in den Fall involviert war, eigene Nachforschungen unter „Quellen“ in der islamistischen Szene anstellte und auch Maßnahmen ergriffen hatte. Demzufolge wertete das Bundesamt bereits im Februar 2016 Fotos eines Handys aus, das die Berliner Polizei bei einer Kontrolle am Zentralen Omnibusbahnhof von Amri beschlagnahmt hatte. Der Tunesier reiste mehrfach von Nordrhein-Westfalen nach Berlin, war in der deutschen Dschihadisten-Szene gut vernetzt.

Verfassungsschutz nutzt seine „Quelle“

Laut des internen Vermerks wurden diese Handy-Fotos auf Veranlassung des BfV „geeignet erscheinenden Quellen“, also -V-Leuten, vorgelegt. Über die Vorlage dieser Fotos hatten bereits verschiedene Medien berichtet. V-Personen sind Extremisten, die heimlich für die Sicherheitsbehörde arbeiten und dem Geheimdienst Informationen aus der Szene liefern, oftmals gegen Geld. Für Polizei und Verfassungsschutz gilt der Schutz dieser „Quellen“ als besonders wichtig – um weiterhin Wissen über Radikale geheim zu beschaffen, aber auch um jede einzelne V-Person selbst nicht durch eine Entlarvung zu gefährden.

Bereits Anfang 2016 war Amri längst im Visier von Polizei, Staatsanwaltschaft und auch Geheimdiensten. Vor allem Ermittler in NRW warnten davor, wie gefährlich der junge Mann ist. Mehrfach war die Akte Amri Thema im GTAZ, dem gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum von Bund und Ländern in Berlin. Mit dabei bei den Sitzungen auch: Vertreter des

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„Intensivierung der Beobachtung“

Der „Berliner Morgenpost“ und „Kontraste“ liegt nun ein bisher unbekannter Vermerk des Bundesamtes zum weiteren Vorgehen der Behörde in dieser Zeit, Anfang 2016 und somit fast ein Jahr vor dem Anschlag, vor. Unter dem Stichwort „Ergebnis der Lichtbildvorlage zum Umfeld des Amri“ und mit dem Hinweis „Quellenschutz“, wurde demnach am 7. März 2016 folgende Maßnahme durch den Inlandsgeheimdienst angeregt: „Intensivierung der Beobachtungen zu Amri“.

Nicht nur der tunesische Islamist, sondern auch eine weitere Person aus dem islamistischen Spektrum, die mit Amri bekannt war, sollte in den Fokus des Geheimdienstes genommen werden. Außerdem wurde in dem Vermerk angeregt, Besuche in einer als Salafisten-Treffpunkt bekannten Moschee unweit des Berliner Flughafens Tegel durchzuführen. Möglicherweise waren weitere V-Personen des Verfassungsschutzes in dieser Zeit auf Amri und seine Islamisten-Freunde angesetzt. Und offenbar gab das Bundesamt hier gezielte Anregungen für weitere Nachforschungen in der Szene an den Berliner Verfassungsschutz.

Dschihadisten-Treff „Fussilet“

Sowohl die Kriminalämter als auch die Verfassungsschutzämter hatten nach der Auswertung der Handy-Fotos Informationen über Amri und dessen Kontaktpersonen. Dazu zählten mehrere Radikale, auch aus der schon damals als Islamisten-Treffpunkt bekannten Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit.

Die offiziellen Verlautbarungen nach dem Anschlag stehen zu den in dem Vermerk erwähnten „Maßnahmen“ im Widerspruch. War die Causa Amri vor dem Attentat tatsächlich ein reiner Polizeifall? Im Innenausschuss des Bundestags hatte ein Vertreter des BfV bereits wenige Tage nach dem Anschlag versichert, das BfV habe keine eigenen Erkenntnisse zu Anis Amri gehabt. Im Abschlussbericht des Berliner Sonderbeauftragten zur Aufklärung des Behördenhandelns im Fall Amri heißt es, das BfV habe mitgeteilt, „es habe vor dem Anschlag keine eigenen Informationen zu Amri besessen und auch keine eigene Informationsbeschaffung zu Amri betrieben“.

Grüne werfen Maaßen vor, er habe gelogen

Die Grünen forderten angesichts der neuen Erkenntnisse Konsequenzen. „Präsident Maaßen hat gelogen“, sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Irene Mihalic. „Was der Grund dafür ist, werden wir herauszufinden haben.“ Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Martina Renner, forderte erneut Maaßens Rücktritt. „Herr Maaßen ist politisch nicht mehr haltbar“, sagte Renner.

Union sieht Maaßen entlastet - SPD, Linke und Grüne noch nicht

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    Der BfV-Präsident steht wegen seiner Gespräche mit AfD-Politikern und seiner Aussagen zu einem Video, das die Vorfälle in Chemnitz dokumentierte, ohnehin bereits unter Druck. Auch im Fall Amri gab es bereits zuvor Vorwürfe gegen Maaßen. Sein Amt hatte die Existenz eines V-Mannes des BfV im Umfeld der auch von Anis Amri frequentierten Berliner Fussilet-Moschee verschwiegen.

    Absprachen mit Berliner Regierung?

    Laut einem internen Vermerk des BfV empfahlen Mitarbeiter der Behörde Präsident Maaßen zudem, Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) bei einem Treffen im März 2017 darauf einzuschwören, die Existenz des V-Mannes in der Fussilet-Moschee ebenfalls nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ob Maaßen diesen Vermerk jedoch überhaupt gelesen hat, bleibt unklar.

    Geisel hatte auf Anfrage unserer Redaktion zudem versichert, bei dem Treffen sei nicht über V-Leute gesprochen worden. Das BfV blieb auf Anfrage bei der Darstellung, „im Umfeld“ von Anis Amri keinen V-Mann geführt zu haben. In Sicherheitskreisen wird die Existenz des V-Mannes in der Fussilet-Moschee allerdings nicht mehr bestritten. Dieser habe Amri aber nicht gekannt, heißt es. Nach Recherchen unserer Redaktion hatten Mitarbeiter des Bundesamtes ihrem Informanten in der Fussilet-Moschee bereits Ende Februar Fotos mit Amri und weiteren Islamisten von dessen Handy vorgelegt. Die Geheimdienstler fragten ihre „Quelle“, ob und was sie über Amri und dessen Kontakte wissen.

    Über die Existenz einer V-Person im Umfeld von Amri hatte zuerst die „Welt“ berichtet.

    Schwierige Handhabe von „Quellen“

    Ob überhaupt oder was dabei herauskam, bleibt allerdings unklar. Hinweise auf wichtige Informationen, die der Verfassungsschutz durch die Maßnahmen gewinnen konnte, liegen nicht vor. Offenbar war die „Quelle“ nicht nah genug an Amri dran. Experten berichten auch, dass es häufig nicht einfach ist, geheime Informanten so zu steuern, dass sie schnell fremde Personen auskundschaften können – das Risiko, Misstrauen zu schüren ist hoch.

    Möglicherweise war die „Quelle“ auch deutlich älter als der junge Tunesier Amri oder sie sprach kein Arabisch. Eine Möglichkeit ist auch, dass der Informant diese oder andere Moscheen, in denen auch Amri verkehrte, nicht regelmäßig oder zu anderen Zeiten besucht hatte. All das können Gründe dafür sein, dass die „Quelle“ nichts zu Amri gewusst haben will. Details zu Informanten gibt der Geheimdienst selbst nicht preis – auch aus Schutz der „Quelle“.

    Am Ende doch erkannt

    In der Interpretation der Behörde habe der Informant nicht „zum Umfeld“ des Tunesieres gehört. Die Linke-Abgeordnete Renner bezeichnete dies als „sprachliche Kniffeligkeit“ und als Versuch, „ideenreich zu lügen“.

    Nachdem Amri auf dem Breitscheidplatz viele Menschen getötet und verletzt hatte und Medien bereits intensiv über den Islamisten berichtet hatten, sollen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes ihrer „Quelle“ im Umfeld der Fussilet- Moschee erneut Fotos von Amri und anderen Personen vorgelegt haben. Diesmal, so wurde unserer Redaktion bestätigt, soll der Informant Amri erkannt haben.