Essen/Berlin. Großclans leben vom Zusammenhalt der Familien. Dagegen kommt die Polizei schwer an. Nun versuchen es die Beamten mit „null Toleranz“.

Was Politiker gerne „Störkommando“ oder „Nadelstiche“ nennen, beginnt an diesem Abend im Konferenzraum eines Essener Polizeireviers. An dem langen Tisch sitzen Steuerfahnder, Zollbeamte, Kripo-Ermittler und Polizisten. Ein Beamer wirft eine Power-Point-Präsentation an die Wand: „Null Toleranz – Gemeinsam und konsequent für Sicherheit in Essen“. Schon kleine Ordnungswidrigkeiten notieren, geringe Straftaten ahnden, und sei es nur ein Knöllchen wegen Falschparkens – mit dieser Taktik wollen Sicherheitsbehörden verhindern, dass sich Kriminalität von Mitgliedern aus Familienclans in Stadtteilen festsetzt. „Niedrigschwellige Einsätze“ nennen Polizisten das. Die Razzien bündeln Kräfte. Und ein paar Stunden später wird diese Strategie auf die Realität in den Stadtvierteln treffen.

18.27 Uhr, Vorfahrt der Einsatzwagen vor einem Lokal in Essen. Auf der Schaufensterscheibe prangt der Schriftzug „Neueröffnung“. Eigentlich müsste dort „geschlossen“ stehen. Denn die Behörden waren erst vor ein paar Wochen hier und haben den Laden dichtgemacht, weil keiner ein Gewerbe angemeldet hatte. Die Tür hatten die Beamten mit einem Vorhängeschloss gesichert, der Schlüssel für die Tür wurde beschlagnahmt. Genutzt hat es nichts.

Ruhrgebiet, Bremen und Berlin sind Hotspots der Clankriminalität

An den drei Tischen im Café sitzen über ein Dutzend Gäste, rauchen und spielen Karten. Neonlicht, Rauchschwaden, an der Decke surrt ein Ventilator. Wo der Betreiber ist? Keine Ahnung, sagen die Männer. Wie man ihn erreichen könne und wie er heiße? Auch keine Ahnung. So ist das immer, sagt einer der Polizisten. Das Kalkül dahinter: Wenn niemand verantwortlich ist, kann man auch keinen zur Verantwortung ziehen.

Orte wie den in Essen gibt es bereits in ganz Deutschland – im Dortmunder Norden, in Essen und Duisburg, in Bremen und vor allem in Berlin. Hotspots der Clankriminalität. Reporter dieser Redaktion und des ARD-Politikmagazins Kontraste haben Polizisten, Beamte vom Ordnungsamt und Staatsanwälte im Kampf gegen kriminelle Mitglieder aus Großfamilien bei Einsätzen begleitet.

Waffen, Drogen, Autos und geschmuggelter Tabak

In wenigen Wochen nahmen Polizisten in NRW im Zuge von Razzien zuletzt 20 Verdächtige fest, ein Großteil war per Haftbefehl gesucht. Bei 230 Durchsuchungen stellten die Beamten 50 „Gegenstände“ sicher: Waffen, Drogen, Autos und geschmuggelter Tabak.

Ortswechsel, Berlin. Sjors Kamstra, Oberstaatsanwalt in Berlin und einer der profiliertesten Ermittler im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, kann Beispiele nennen. Da war etwa der Mann, ein unbescholtener Berliner arabischer Herkunft, der von dem Mitglied eines Clans bei einem Streit mit einem Messer verletzt wurde. Er belastete den Täter schwer. Dann bekam er Besuch von einem anderen Familienmitglied. Erst bot man ihm Geld, später kam es zu Morddrohungen. Im Prozess sagte der Zeuge, dass er sich nicht mehr erinnern könne, wer zugestochen habe. Der Mann sei „umgefallen“, sagt Kamstra. Der mutmaßliche Messerstecher kam frei.

77 Immobilien in Berlin wurden konfisziert

Vor zwei Wochen dann ein Erfolg: Ermittler konfiszieren in Berlin 77 Immobilien, die der Familie R. gehören. Die Behörden gehen davon aus, dass der Ankauf durch Straftaten finanziert wurde.

Die Berliner Staatsanwältin Susann Wettley hat bereits Ermittlungserfolge gegen kriminelle Clanmitglieder vorzuweisen. Sie weiß aber, wie schwierig es ist, die Täter zu fassen. Und sie ist der Meinung, dass die Justiz mitunter die falschen Signale setzt. „Wir merken schon, dass wir vielfach nicht ernst genommen werden.“ Etwa dann, wenn die Täter unter 21 Jahre alt sind, milde Strafen bekommen und im offenen Vollzug landen. Läuft es schlecht, sind sie bald zurück im Milieu der Clans.