Berlin. Katja Kipping spricht im Interview über Heimat, Mesut Özil und Rassismus. Die Linke-Chefin warnt vor einer wachsenden Unmenschlichkeit.

Die Welt aus den Fugen, die Regierung in Turbulenzen – was ist jetzt zu tun? Im zweiten Teil unserer Interviewreihe „Deutschland, wohin?“ sagt die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, wie sie in Deutschland die Weichen stellen würde.

Unsere Redakteure treffen Kipping auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Wo sich heute ein riesiger Park erstreckt, landeten 1949 die Flugzeuge der West-Alliierten während der Berlin-Blockade durch die Sowjetunion.

Frau Kipping,der türkischstämmige Fußballspieler Mesut Özil will nicht mehr für die deutsche Nationalmannschaft spielen, weil er „dieses Gefühl des Rassismus und der Respektlosigkeit“ habe. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Katja Kipping: Ich habe mich richtig geärgert, dass Özil und Gündogan vor der Wahl in der Türkei dieses Propaganda-Foto mit Erdogan gemacht haben. Der türkische Staatspräsident ist ein Despot, der Menschenrechte mit Füßen tritt. Extrem ärgerlich fand ich aber auch, dass ein rassistischer Shitstorm über Mesut Özil hereingebrochen ist, als er seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt hat.

Die Kritik an Özil war rassistisch?

Kipping: Nicht jede Kritik. Man kann an der Spielweise von Özil bei der WM sehr viel bemängeln. Aber es gab Kommentare im Netz, die ganz klar darauf abstellten, dass Özil nicht rein deutsch, sondern deutschtürkisch ist. Und ich hatte den Eindruck, einigen vom DFB kam diese Debatte nach dem Misserfolg in Russland als Ablenkung sehr gelegen.

Halten Sie Deutschland für ein rassistisches Land?

Kipping: Sicher nicht das ganze Land. Es hat in den letzten Jahren in Deutschland eine Rechtsverschiebung gegeben. 2015, als viele Flüchtlinge kamen, hat sich Deutschland für drei Monate von einer menschlichen Seite gezeigt. Seither gibt es eine Gegenbewegung – als ob drei Monate der Menschlichkeit in einer dreijährigen kollektiven Hexenaustreibung bearbeitet werden müssten. Was als sagbar und machbar gilt, ist in den vergangenen drei Jahren immer mehr ins Unmenschliche verschoben worden. Wenn man diskutiert, ob man Flüchtlinge im Mittelmeer retten oder einfach ersaufen lassen soll, ist das ganz klar eine Verschiebung ins Unmenschliche.

Sie sind in Dresden geboren. Ist Fremdenfeindlichkeit, wie sie sich im Osten zeigt, auch ein Erbe der sozialistischen Diktatur?

Kipping: Ach, das wäre so schön einfach, wenn wir für den Rassismus die DDR verantwortlich machen könnten. Dann müssten weder Medien noch Politik sich fragen, was sie zu ändern haben. Mir ist diese Erklärung zu simpel. Es geht mir auch nicht um Entschuldigungen. Aber ich denke, Fremdenfeindlichkeit hat eher mit den Erfahrungen der Demütigung zu tun, die die Leute im Osten Anfang der 90er-Jahre gemacht haben – und mit dem Gefühl sozialer Entsicherung.

Was ist Heimat für Sie? Sachsen? Deutschland? Die untergegangene DDR?

Kipping: Ich kann Heimat nicht an einem konkreten Ort festmachen, sondern an Menschen. Heimat ist für mich, wenn ich mich mit meinem Mann und meiner Tochter an einem Sonntagmorgen im Bett berate, wie wir unsere komplett unterschiedlichen Vorstellungen von der Tagesgestaltung unter einen Hut bekommen können. (lacht)

Warum tut sich die Linkspartei so schwer mit der Annahme, Deutschland könnte ihre Heimat sein?

Kipping: Wo man sich zu Hause fühlt, ist eine sehr persönliche Frage – und keine Frage für Parteiprogramme. Ich mache es an Menschen fest, daher fühle ich mich in Dresden und in Berlin zu Hause. Ich hatte dieses Gefühl aber auch schon in Chicago und in St. Petersburg.

Katja Kipping und die beiden Redakteure Jochen Gaugele (l.) und Alexander Kohnen (r.).
Katja Kipping und die beiden Redakteure Jochen Gaugele (l.) und Alexander Kohnen (r.). © Maurizio Gambarini | Maurizio Gambarini

Gehört jeder zu Deutschland, der in Deutschland leben will?

Kipping: Die sorbische Minderheit in Sachsen hat dafür eine unheimlich sympathische Definition: Zum sorbischen Volk gehört, wer sich zum sorbischen Volk bekennt. Ich würde sagen: Wer in Deutschland leben und sich einbringen möchte in die Gesellschaft, sollte zu Deutschland gehören.

Was bedeutet das für das Asylrecht?

Kipping: Wir brauchen eine europaweite, solidarische Lösung für die Asylfrage. Jeder EU-Mitgliedstaat sollte entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen bestimmten Prozentsatz der Geflüchteten aufnehmen. Auf meiner Sommertour durch Sachsen habe ich aber gemerkt: Viele Menschen sind genervt, dass nur noch über das Flüchtlingsthema gesprochen wird und Alltagsprobleme wie Altersarmut und Pflegenotstand hinten runterfallen.

Uns würde trotzdem noch interessieren, ob Sie auch auf Abschiebungen verzichten wollen.

Kipping: Ich setze mich für ein deutlich erweitertes Asylrecht in Deutschland ein. Wir sollten Umweltkatastrophen und geschlechtsspezifische Verfolgung als Fluchtgründe anerkennen. Der Abschiebeflug zum 69. Geburtstag von Innenminister Seehofer zeigt doch, wie pro­blematisch die Politik der schnellen Abschiebungen ist.

Wie denkt die Linke-Chefin eigentlich über Papst Franziskus?

Kipping: Ich bin konfessionslos und war sehr skeptisch, als er gewählt wurde. Aber dieser Papst hat mich positiv überrascht mit seinem entschiedenen Eintreten für Geflüchtete und auch mit seiner Kapitalismuskritik.

Was leiten Sie aus dieser Kapitalismuskritik für den Umgang mit deutschen Unternehmen ab?

Kipping: Ganz unabhängig vom Papst bin ich der Meinung, dass wir die Rechte des Bundestages gegenüber der Wirtschaft stärken müssen – nach dem Vorbild der USA, Kanadas oder Frankreichs. Das Parlament sollte die Befugnis bekommen, Konzernchefs vorzuladen, um Rede und Antwort zu stehen. In den USA konnte man im Fall von Facebook und Mark Zuckerberg sehen, was das bewirkt.

Was genau soll sich im Bundestag abspielen?

Kipping: Die Befragung soll in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages erfolgen und im Fernsehen übertragen werden. Und wenn sich ein vorgeladener Konzernchef weigert, muss er eine empfindliche Strafe zahlen.

Welche Vorstandsvorsitzenden wollen Sie denn vorladen?

Kipping: Die Chefs von Konzernen, deren Entscheidungen der Bevölkerung schaden. Beispielsweise von Autokonzernen wie VW, die in den Dieselskandal verwickelt sind. Oder von Immobilienkonzernen wie Deutsche Wohnen, bei denen die Vorstandsvergütungen steigen, obwohl es immer mehr Beschwerden der Mieter gibt. Ich denke auch an Rüstungskonzerne wie Heckler & Koch, denen kriminelle Machenschaften vorgeworfen werden. Oder an Gesundheitskonzerne wie Helios, die auf Lohndumping setzen.

Nächste Woche im Interview: FDP-Chef Christian Lindner