München. Beate Zschäpe ist schuldig gesprochen worden und hat das Urteil regungslos empfangen. Die Rechtsterroristin will in Berufung gehen.

Es ist 9.42 Uhr, als sich die weiße, unauffällige Tür unweit der Richterbank öffnet. Ein Polizeibeamter tritt in den Gerichtssaal, dann folgt Beate Zschäpe. Sie trägt Schwarz, um den Hals ein Tuch, lila, rot, weiß. Im Dauerfeuer klicken die Apparate der Fotografen. Es könnte das letzte Mal sein, Beate Zschäpe noch einmal fotografieren zu können.

Die Frau, die in fünf Jahren Prozess manchmal lächelte und manchmal gelangweilt auf den Laptop vor sich starrte. Die Frau, die für zehn Morde keine Reue gezeigt hat. Und die Frau, in deren Gesicht Väter schauen mussten, als sie vom Tod ihrer Söhne erzählten.

Auch am Tag ihrer Verurteilung lächelt Zschäpe in die Kameras. Sie gibt sich gelassen. Sie ist nur noch wenige Minuten eine Beschuldigte, dann wird sie eine verurteilte Rechtsterroristin sein. Die Anspannung lässt sich die 43-jährige Frau nicht anmerken. Zumindest nicht äußerlich.

Beate Zschäpe ignorierte erneut ihre alten Verteidiger

Oben, auf einer Empore im Saal A 101 des Oberlandesgerichtes, ist eine kleine Tribüne. Als der Prozess am 6. Mai 2013 begann, war sie gut gefüllt mit Journalisten und Zuschauern. In der Zeit danach riss das Interesse der Öffentlichkeit ab. Kaum jemand blickte in den 438 Verhandlungstagen noch nach München. Weil der Prozess torpediert wurde vom Streit zwischen Zschäpe und ihren Anwälten, von Befangenheitsanträgen. Weil stundenlange Beweisaufnahmen notwendig waren, in denen das Gericht etwa Autokennzeichen und Kilometerstände von Wohnmobilen durchging, die der NSU gemietet hatte. Weil Hunderte Zeugen befragt werden mussten.

Die Zuschauertribüne war wieder gut gefüllt, als der Angeklagte Carsten S. gestand, wie er die Mordwaffe, eine Ceska 83, im Frühjahr 2000 an die untergetauchten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt übergab. Auch waren viele Menschen im Saal des Gerichts, als Ismail Yozgat in Tränen ausbrach. Er ist Vater von Halit Yozgat, der in Kassel in einem Internet-Café von Mundlos und Böhnhardt ermordet wurde. Zwischen das Weinen schiebt er einen Satz: „Ich bin Ismail Yozgat, Vater des Märtyrers.“

Am 11. Juli 2018, war die Tribüne im Saal A 101 wieder voll besetzt. Zschäpe begrüßt ihre zwei Vertrauensanwälte, Hermann Borchert und Mathias Grasel. Ihre drei alten Verteidiger, Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl, ignoriert sie.

Der NSU-Prozess ist ein Politikum für linke und rechte Szene

Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben.
Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben. © REUTERS | REUTERS / POOL

Oben, auf der Empore, sitzt auch eine Handvoll Männer und Frauen, die schwarze Hemden oder Polo-Shirts tragen. Es sind Rechtsextremisten. Sie haben sich in den frühen Morgenstunden in die Schlange am Gericht gestellt. Nicht nur für die linke Szene ist der NSU-Prozess ein Politikum. Auch für die Rechten. Ihr Idol ist Ralf Wohlleben, Mitangeklagter, jahrelang NPD-Funktionär und Helfer des NSU. Aus seiner nationalsozialistischen Weltsicht hat er auch vor Gericht keinen Hehl gemacht. Gleich nach Zschäpe betritt er den Saal, auch er trägt Schwarz. Er begrüßt sein Verteidigerteam und nimmt Platz. Einige Minuten später wandert sein Blick hoch, er lächelt, winkt seinen „Kameraden“ zu.

Zehn Minuten nach Beate Zschäpe betritt Richter Manfred Götzl den Saal. Er steht vor den Angeklagten, die Richterbank ist etwas erhöht. „Bitte erheben Sie sich“, sagt Götzl. Das Urteil, es ist 9.55 Uhr. Zschäpe steht zwischen ihren Anwälten. Die dunklen Haare lassen von der Tribüne kaum einen Blick auf ihr Gesicht zu. Regungslos vernimmt sie die lange Aufzählung der Straftaten, die zu ihrer lebenslangen Haftstrafe führen – und dazu, dass ihre Schuld besonders schwer wiegt.

Beate Zschäpe wegen mehrfachen Mordes schuldig gesprochen

Mord in zehn Fällen, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwere Brandstiftung. Mit dem Urteil folgt der Richter in weiten Teilen der Forderung der Bundesanwaltschaft – vor allem der Annahme, dass Zschäpe als Mittäterin zu verurteilen ist, obwohl Belege dafür fehlen, dass sie bei einem der Morde am Tatort war.

Zschäpe und ihre Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt seien übereingekommen, als Verbund Menschen aus antisemitischen oder anderen Gründen zu töten, sagt Richter Götzl. Mehrere Stunden lang nennt Götzl die Gründe für sein Urteil. Er spricht von ideologisch motivierten Zielen, an denen alle drei gleich großes Interesse gehabt hätten. 13 Jahre lebten sie gemeinsam im Untergrund. Und Götzl sagt, die Taten waren nur möglich, weil Zschäpe geholfen hat. Ihre Aufgabe im NSU: für eine harmlose Legende nach außen zu sorgen.

NSU-Prozess: Schuldig – lebenslange Haft für Beate Zschäpe

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    Nachdem Mundlos und Böhnhardt mit einem Überfall in Eisenach am 4. November 2011 gescheitert waren, hat Zschäpe die Bekenner-DVD verschickt. Die drei haben laut Gericht von Anfang an geplant, die Morde und Anschläge am Ende „als rechtsideologisch motivierte Serientaten“ nach außen darzustellen. Allerdings ordnet Götzl nicht wie von der Anklage gefordert Sicherungsverwahrung an. Zschäpe wird wohl dennoch 15 Jahre oder länger in Haft sitzen.

    Verteidiger kündigen Revision an

    In einer Verhandlungspause am späten Vormittag kündigt Zschäpes Anwalt Wolfgang Heer an, die Verteidiger würden Revision einlegen. „Die Verurteilung Frau Zschäpes wegen Mittäterschaft an den von Böhnhardt und Mundlos begangenen Morden und Raubstraftaten ist nicht tragfähig begründbar“, sagt Heer. Ein Urteil im NSU-Prozess ist gefallen. Ein Ende muss das noch nicht bedeuten.

    Nicht in allen Fällen urteilt der Richter im Sinne der Staatsanwaltschaft. Auf der Anklagebank sitzt auch André E. Auch er überzeugter Neonazi. Er ließ sich ein Tatoo stechen, mit den Worten: „Stirb Jude stirb“. E. soll laut Staatsanwaltschaft von den Morden gewusst haben, gefordert waren zwölf Jahre Haft. Für die Ermittler ist E. das vierte Mitglied des NSU. Richter Götzl verurteilt E. wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Nicht wegen Beihilfe zum Mord.

    Vor dem Gericht sind die Porträts der Toten aufgestellt

    Es dauert ein paar Minuten, bis das Urteil aus dem Prozessgebäude bis auf die Straße vor dem Münchner Gericht dringt. Ein paar Hundert Menschen haben sich versammelt. Sie protestieren gegen Gewalt von rechts und sie gedenken der Opfer der Mordserie. Vor der Rednerbühne haben sie Porträts der Toten aufgestellt. Darunter stehen ihre Namen: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Auf Plakaten tragen sie ihre Botschaften vor das Gericht und die Kameras: „Das Problem heißt Rassismus“ oder „Kein Schlussstrich“ – das sind ihre Statements.

    Kurz nach Verkündung des Urteils ist auch Mehmet Daimagüler auf dem Platz vor dem Gericht. Der Rechtsanwalt vertritt Hinterbliebene und begleitet den Prozess seit Beginn an. Daimagüler sagt: „Das Urteil gegen Zschäpe ist konsequent und richtig.“ Die drei Jahre Haftstrafe für Carsten S. hält der Anwalt für zu hart. S. habe als einziger der fünf Verurteilten „echte Reue“ gezeigt. Er habe umfangreich ausgesagt und somit wichtige Hinweise für die Schuld von Zschäpe und Wohlleben geliefert. „Jetzt sitzt er in Haft“, sagt Daimagüler. „Dabei ist er in Freiheit für die Gesellschaft wertvoller.“ Carsten S. könne mit jungen Menschen sprechen und aufklären über die Gefahr der rechtsextremen Szene in Deutschland. „Wenn wir darüber reden, dass jetzt kein Schlussstrich unter den NSU gezogen werden darf, sind Menschen wie Carsten S. wichtig.“

    Auch die 22 Jahre alte Havva Celik steht vor dem Gerichtsgebäude. Celiks Gesicht umschließt ein beigefarbenes Kopftuch, ihre Stimme ist leise, und eigentlich möchte sie nicht gefragt werden. Dann erzählt sie doch, warum sie hier steht. „Ich komme auch aus einer türkischen Familie“, sagt sie. „Und ich sehe, wie der Hass gegen uns wieder wächst in Deutschland. Das macht mir Sorgen.“ Mehrfach habe sie schon Beschimpfungen aushalten müssen. Einmal habe eine Frau im Supermarkt zu ihr und ihren Freundinnen gesagt: „Ihr Türkenweiber!“ Celiks Eltern sind Türken, sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Im vergangenen Jahr hat sie an einem Münchner Gymnasium Abitur gemacht. „Ich habe eine deutsche und eine türkische Seite in mir, das will ich nicht ablegen“, sagt sie.

    Als der Richter das Urteil gegen André E. verliest, klatschen die Neonazis auf der Tribüne kurz Beifall. Weil E. bereits länger in Untersuchungshaft sitzt, ordnet Richter Götzl seine Freilassung an. Er küsst seine Frau, die neben ihm als Beistand auf der Anklagebank sitzt. Der Neonazi jubelt. Hinter ihm die Angehörigen der Opfer des NSU. Auch das ist ein Ende dieses Tages, der letzte in einem deutschen Jahrhundertprozess.