Istanbul. Recep Tayyip Erdogans Politikkarriere kannte nur eine Richtung: nach oben. Doch nun muss der türkische Präsident um Macht kämpfen.

Seit mehr als 15 Jahren regiert er die

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, länger als irgendjemand sonst seit dem Beginn der Mehrparteienära 1946 –

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. Er hat das Land geprägt wie vor ihm nur der legendäre Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Seine Gegner sagen, er herrsche selbstherrlich und autoritär wie ein Sultan.

Seine Anhänger verehren ihn mit geradezu religiöser Inbrunst, sehen in ihm einen neuen Kalifen und Propheten. „Erdogan ist göttlich, zwar ein menschliches Wesen, aber von Allah gesandt“, glaubt Belma Erdogan, eine Funktionärin der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Demokrat oder Despot? Hoffnungsträger oder Totengräber der Türkei? Kein Politiker hat die Menschen so polarisiert, das Land so tief gespalten wie Erdogan.

Jetzt steht die Türkei an einem Wendepunkt. Die

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sind die wohl wichtigste Abstimmung seit Gründung der Republik vor fast 95 Jahren. Erstmals wählen die Türken gleichzeitig ein neues Parlament und einen Staatspräsidenten. Die Wahlen besiegeln den Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum neuen Präsidialsystem, das die Wähler vor gut einem Jahr mit knapper Mehrheit in einer Volksabstimmung billigten. Gewinnt Erdogan, wird er Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion, kann seine Minister ohne Zutun des Parlaments berufen und entlassen, eigenmächtig den Staatshaushalt aufstellen, per Dekret regieren und die Nationalversammlung nach Gutdünken auflösen.

Erdogan: Vom Straßenhändler zum erfolgreichen Politiker

Damit würde eine bemerkenswerte politische Karriere ihren Höhepunkt erreichen. 1954 als Sohn einer Seemannsfamilie geboren, wuchs Erdogan im schäbigen Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa auf. Sein Taschengeld verdiente er sich mit dem Straßenverkauf von Limonade und Sesamkringeln. Eine vielversprechende Karriere als Fußballer musste Erdogan auf Geheiß des strengen Vaters ausschlagen.

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    Statt auf den Rasen schickte der ihn auf eine islamische Priesterschule. Später bekam Erdogan einen Job in der Istanbuler Stadtverwaltung und schloss sich der islamistischen Wohlfahrtspartei an, für die er 1994 zum Bürgermeister der Bosporusmetropole gewählt wurde. 2001 gründete Erdogan mit einigen Gesinnungsgenossen die AKP und gewann im Jahr darauf die Parlamentswahlen. Nach elf Jahren im Amt des Premierministers wählten ihn die Türken im Sommer 2014 zum Staatspräsidenten.

    Seine Herkunft prägt Erdogan bis heute. Er ist ein Kämpfer. Das hat er gelernt in Kasimpasa, wo man sich mit Fäusten und Ellenbogen behauptet. Nach Rückschlägen steht er umso kampfeslustiger wieder auf. Bisher hat er alle Attacken überstanden. Eine Haftstrafe wegen islamistischer Hetze brachte ihn ebenso wenig zu Fall wie ein politisches Berufsverbot. Die landesweiten Massenproteste vom Sommer 2013 konnten ihm genauso wenig anhaben wie die wenig später aufgekommene Korruptionsaffäre.

    Erdogan will es immer noch allen beweisen

    Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 hat Erdogan seine Macht weiter zementiert. Zehntausende seiner Gegner sitzen hinter Gittern, der Druck auf die Justiz hat zugenommen, auch die meisten Medien hat Erdogan im Griff. Unter dem Ausnahmezustand regiert er das Land seit fast zwei Jahren praktisch im Alleingang.

    Seine autoritätsgläubigen Anhänger finden nichts dabei. Erdogans Popularität gründet sich vor allem auf die wirtschaftlichen Erfolge seiner ersten Regierungsjahre. Im ersten Jahrzehnt der Ära Erdogan verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Die Türkei stieg in die Liga der G20 auf, der weltweit 20 größten Volkswirtschaften. Viele Wähler sehen in Erdogan den Vater des türkischen Wirtschaftswunders. Großprojekte im ganzen Land, wie der neue Istanbuler Flughafen, der Bosporus-Tunnel und die dritte Brücke über die Meerenge sollen dieses Wirtschaftswunder symbolisieren. Sie sind zugleich Sinnbilder der „Großen Türkei“, von der Erdogan in diesem Wahlkampf immer wieder spricht. Er sieht sein Land in einer globalen Rolle wie einst das Osmanenreich – die Türkei als Großmacht, Erdogan als ihr Führer und Kriegsherr, der es mit allen aufnimmt.

    Die wüsten Schimpftiraden, mit denen Erdogan ausländische Politiker überzieht, die Nazi-Vorwürfe gegen Deutschland und Israel, die bizarren Verschwörungstheorien, wie auch die unversöhnliche Härte, mit der Erdogan gegen Kritiker im eigenen Land vorgeht, haben einen gemeinsamen Nenner: Der Aufsteiger aus Kasimpasa muss sich und der Welt offenbar immer noch beweisen, dass er es geschafft hat.

    Umfragen lassen einen knappen Ausgang erwarten

    Er versprach ein „Präsident aller Türken“ zu sein. Aber das hat er nicht gehalten. Den Friedensprozess mit den Kurden, von ihm selbst angestoßen und einige Jahre lang verfolgt, hat er selbst wieder beendet, weil ihm die Kurdenpartei HDP zu einflussreich wurde. Heute ist der Konflikt so weit von einer friedlichen Lösung entfernt wie auf seinem Höhepunkt in den 1990er Jahren.

    Mit seinem Machtgehabe und seinem luxuriösen Lebensstil hat er selbst frühere politische Weggenossen verprellt. Viele liberale, westlich orientierte Türken, die Anfang der 2000er Jahre Erdogan nicht zuletzt wegen seines pro-europäischen Kurses und seiner Reformen wählten, fürchten inzwischen um die Demokratie in ihrem Land.

    Umfragen lassen einen knappen Wahlausgang erwarten. Problematisch für Erdogan: Ausgerechnet seine Trumpfkarte, das Wirtschaftswunder, sticht nicht mehr. Die hohe Inflation, der Absturz der Lira, das wachsende Leistungsbilanzdefizit und die rasant steigenden Fehlbeträge im Haushalt sind nach Einschätzung vieler Ökonomen Anzeichen einer Überhitzung, die zu einer Finanzkrise führen wird. Vor allem diese Sorge dürfte Erdogan bewogen haben, die Wahlen um 17 Monate vorzuziehen.

    Bei früheren Wahlen profitierte Erdogan nicht nur vom Wirtschaftsboom sondern auch von der Schwäche der Opposition. Jetzt schwächelt die Wirtschaft, die Oppositionsparteien sind aufgewacht – und Erdogan scheint nicht mehr unbesiegbar. Sollte er am Sonntag eine absolute Mehrheit verfehlen – was Umfragen zufolge möglich ist – müsste er am 8. Juli aller Voraussicht nach gegen Muharrem Ince, dem Kandidaten der kemalistischen Mitte-Links-Partei CHP in eine Stichwahl. Und sollte die pro-kurdische HDP bei der Parlamentswahl über die Zehn-Prozent-Hürde kommen, könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit verlieren.