Wiesbaden. Zum ersten Mal in 155 Jahren führt eine Frau die SPD an. Andrea Nahles soll die Partei erneuern, doch zum Start setzt es einen Dämpfer.

Andrea Nahles ist erstarrt. Das Ergebnis scheint sie in ihren Stuhl zu pressen. Minutenlang. Es gibt kein Entrinnen. Die Zahlen, die gerade im nagelneuen Wiesbadener Kongresszentrum verlesen wurden, sind erbarmungslos.

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Nahles starrt ins Leere. Dann lächelt sie matt, steht auf, nimmt wie in Trance die ersten Glückwünsche von Olaf Scholz entgegen. Nahles’ wichtigster Verbündeter in der großen Koalition kennt dieses Gefühl, von der eigenen Partei gedemütigt zu werden.

Nahles wusste, dass die Abstimmung kein Spaziergang wird. Bei früheren Parteitagen tippte sie bei der Vorsitzendenwahl fast immer am besten die Ergebnisse. So auch die 74,3 Prozent von Sigmar Gabriel Ende 2015. Dieses Mal traute sie sich keine Prognose zu, was für jemanden wie Nahles, die den sozialdemokratischen Laden wie keine Zweite kennt, etwas heißen will. Die Schmach, noch schlechter als ihr Rivale Gabriel abzuschneiden, wollte sie auf jeden Fall verhindern.

Herausforderin Lange zeigt eine dürftige Performance

Aus dem Nichts kommt das Misstrauen nicht. Nahles war wie Scholz nie ein Liebling der Genossen, 2013 bekam sie als „Generalin“ 67,2 Prozent. Zu stark klebten an ihr alte Bilder. Wie sie Franz Müntefering in den Rücktritt trieb oder schon 1995 in Mannheim als Juso-Chefin herumhüpfte, nachdem auch mit ihrer Hilfe Rudolf Scharping von Oskar Lafontaine gestürzt wurde. Der revanchierte sich mit dem ultimativen Lob, Nahles sei ein „Gottesgeschenk“ für die SPD. Zu viele der 631 Genossen, die in Wiesbaden abstimmen dürfen, sehen das an diesem historischen 22. April anders. Zumal sich die Wut über die ungeliebte GroKo ein weiteres Mal entlädt.

Neue starke Frau: Andrea Nahles zur SPD-Parteichefin gewählt

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    zeigt eine dürftige Performance. Die Flensburger Oberbürgermeisterin, der Underdog von der Parteibasis, wollte unbedingt 30 Minuten reden. Dieses Zugeständnis trotzte sie dem Vorstand ab. Jetzt kann sie gerade mal 16 Minuten mit Inhalten füllen.

    Simone Lange hatte nur eine Botschaft

    Die frühere Kripo-Sachbearbeiterin legt den Finger in die tiefe Wunde der auf 20 Prozent abgestürzten Volkspartei. „Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit.“ Die SPD müsse wieder die Herzen der Menschen erreichen. Dafür bekommt sie viel Beifall. „Ich bin heute eure Alternative!“ Aber was will sie anders machen, was könnte sie besser als Nahles?

    Hartz IV müsse weg, sagt die Mutter zweier Töchter. Das ist ihre zentrale, aber auch einzige Botschaft. Die SPD habe mit den Arbeitsmarktreformen Millionen Menschen enttäuscht, „die auf uns gesetzt haben“. Die Partei habe in Kauf genommen, dass diese Leute trotz Arbeit in Armut leben müssten: „Dafür möchte ich mich entschuldigen.“ Wieder viel Beifall. Lange wirbt für ein bedingungsloses Grundeinkommen, mit dem alle Bürger künftig frei von Armut leben könnten. Aber wer soll das bezahlen? Dazu sagt Lange, die frei spricht, kein Wort.

    Franz Müntefering sah „Bundesliga gegen Landesliga“

    Um 12.38 Uhr ist sie fertig. Zu diesem Zeitpunkt hoffen Nahles und die Parteispitze noch, dass ihr Kalkül aufgegangen ist, Lange werde sich mit jeder Minute ein Stück weit selbst entzaubern. Auch Franz Müntefering sieht das so. Ein kleiner Spaziergang mit dem Meister der kurzen Sätze und Analysen über den Flur neben dem großen Saal: „Das war Bundesliga gegen Landesliga. Das ist gar nicht böse gemeint“, sagt der langjährige Vorsitzende aus dem Sauerland über Langes Auftritt. Die tapfere Kommunalpolitikerin würde in Berlin nicht bestehen können. „Wenn du so auf der Lichtung stehst, wirst du abgeknallt.“ Er sei aber befangen, weil er ja für Andrea sei, betont „Münte“, der mit Nahles seinen Frieden gemacht hat.

    So scheint Nahles leichtes Spiel zu haben. Vor 30 Jahren gründete sie in ihrer Heimat in der Vulkaneifel mit Freunden einen Ortsverein: „Katholisch, Arbeiterkind, Mädchen, Land, muss ich noch mehr sagen?“, fragt sie in ihrer Bewerbungsrede. Die Germanistin, die bis auf ein paar Jahre bei der IG Metall immer Politik gemacht hat und gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Tochter auf einem umgebauten Bauernhof lebt, schaut ihre Mutter an, die in der ersten Reihe sitzt. „Hallo Mama, du hast sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde.“

    Andrea Nahles: Ihre Karriere in Bildern

    Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben.
    Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben. © dpa | Martin Gerten
    Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos.
    Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Andreas Altwein
    Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996.
    Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996. © REUTERS /
    Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand.
    Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand. © REUTERS /
    Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne.
    Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne. © Getty Images | Sean Gallup
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    Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter. © Meike Boeschemeyer
    Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt.
    Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt. © Getty Images | Sean Gallup
    Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt.
    Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
    Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark.
    Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark. © Getty Images | Carsten Koall
    Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion.
    Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei.
    Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei. © dpa | Kay Nietfeld
    Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende.
    Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende. © dpa | Bernd von Jutrczenka
    Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will.
    Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will. © Reto Klar | Reto Klar
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    Nahles will Basta-Politik der SPD beenden

    Sie wolle „Vorsitzend-EEEEE“ werden, ruft Nahles in den Saal. Den Vokal zieht sie triumphierend in ihrem berühmt-berüchtigten Nahles-Sound in die Länge. Die gläserne Decke, an die so viele Frauen im Konkurrenzkampf mit Männern in der Berufswelt stießen, werde endlich auch in der SPD durchbrochen. Schon vor Jahren hatte sie einmal gesagt, die Zeit von „Basta und Testosteron“ müsse in der SPD ein Ende haben. Nahles litt unter dem manchmal Rambo-artigen Politikstil von Gerhard Schröder. Als Generalsekretärin von Gabriel erlebte sie Ähnliches.

    Ein Wort taucht in Nahles’ starker Rede immer wieder auf: Solidarität. Diese müsse für die Sozialdemokratie neben Freiheit und Gerechtigkeit ein unverzichtbarer Wert sein. Wer will da widersprechen? Nahles räumt ein, dass die SPD es im Wahlkampf versäumt habe, den Bürgern zu sagen, wie denn soziale Gerechtigkeit praktisch erreicht werden könne.

    Nahles geht Stück auf Hartz-IV-Kritiker zu

    Nahles knöpft sich die „neoliberale, turbodigitale Welt“ vor, die Rechtspopulisten in Europa, die sie verachte: „Diese Kräfte sind nicht das Volk, sie sind der Angriff auf das Volk.“ Klartext gibt es von ihr bei Hartz IV. Zum Unmut vieler Parteilinker hatte Finanzminister Scholz versucht, die vor Ostern entfachte Debatte per Interview zu beenden. So einfach macht es sich Nahles nicht.

    Wenn die Partei jetzt sage, die Agenda-Reformen seien abzuwickeln, wäre keine einzige Frage beantwortet. Sie lasse sich ihren Erfolg nicht kleinreden, dass im Koalitionsvertrag ein vier Milliarden Euro teurer, öffentlicher Arbeitsmarkt für 150.000 Langzeitarbeitslose vereinbart worden sei. Aber sie geht dann doch ein Stück weit auf die Hartz-Kritiker zu. Gedanklich sollte auf diesem Feld kein Stein auf dem anderen bleiben, aber die Diskussion sollte nach vorn und nicht im Rückspiegel geführt werden.

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      Nahles warnt vor Funkstille mit Russland

      Auch außenpolitisch setzt Nahles Akzente. Unruhe löste in der Partei zuletzt der von Außenminister Heiko Maas eingeleitete Kursschwenk in der Russland-Politik aus. Er schlug gegenüber Moskau eine härtere Gangart ein als sein Vorgänger Gabriel. Nahles sagt, die SPD sollte nicht mit Zollstock herumlaufen und messen, ob man von den USA oder Russland gerade weiter entfernt sei. Kritik an Moskau wegen der Syrien-Politik sei angebracht, aber es dürfe keine Abkehr vom Dialog geben: „Gerade wir Deutschen wollen Russland gute Nachbarn sein.“

      In den ostdeutschen Landesverbänden, aber auch in Niedersachsen, wo viele Russlanddeutsche leben, sind viele Sozialdemokraten erzürnt. Die Ministerpräsidenten Stephan Weil in Hannover und Manuela Schwesig in Schwerin setzten durch, dass die Haltung der SPD in der Russland-Frage ­demnächst breit im Parteivorstand ­diskutiert werden soll. So weit, so schlecht.

      Um 14.14 Uhr passiert es dann. Die 66 Prozent brechen über Nahles ­herein.

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      der den GroKo-Kurs bekämpfte, aber für Nahles stimmte, ist erschrocken. Der Umgang mit Martin Schulz hätte eine Mahnung an die Partei sein sollen, endlich damit ­aufzuhören, auf einzelne Personen das Wohl und Wehe der SPD zu projizieren. „Entmündigt euch doch nicht selbst!“

      Nahles kann SPD als Trümmerfrau wieder aufbauen

      In der Zwischenzeit hat sich Nahles gefangen. Die Partei- und Fraktionschefin darf zum Abschluss des Parteitages einen besonderen Rausschmeißer ankündigen. Die Würdigung von Schulz. Nahles mag mit 66 Prozent für den Moment schlecht aussehen – Schulz stürzte von 100 Prozent auf null ab. Statt als Außenminister seinen Europa-Traum zu leben, sitzt er als Hinterbänkler im Bundestag und muss AfD-Reden über sich ergehen lassen, wie er es schildert. Andrea Nahles dagegen kann als Trümmerfrau der SPD aufbauen.

      „Was du persönlich erlebt und ausgehalten hast, wie es ist, diese Achterbahn wirklich zu durchleben, das können wir nur ahnen“, sagt Nahles mitfühlend. Niemand außer Schulz hätte es vermocht, „den Schwarzen“ den Kurswechsel in der Europa-Politik aus den Rippen zu leiern, lobt Nahles. Sie überreicht Schulz eine Lithografie von Willy Brandt. Der einstige „Gottkanzler“ aus Würselen ist gerührt. „Unsere Zusammenarbeit war super und wird super bleiben.“

      Schulz-Comeback bei der Europawahl 2019?

      Wie aufrichtig das ist, weiß nur Schulz selbst. Die existenzielle Krise der SPD liegt auch im Umgang des Spitzenpersonals untereinander begründet. So mutet es fast bizarr an, wie Scholz den gescheiterten Kanzlerkandidaten und dessen Europa-Pläne über den grünen Klee lobt. Scholz hatte noch als Hamburger Bürgermeister mit Wonne Schulz das Leben schwer gemacht und nach der Wahl den Mann aus Würselen mit demontiert.

      Schulz, dem ein Comeback als SPD-Spitzenkandidat bei der Europawahl 2019 zuzutrauen ist, tritt nicht nach. Unter dem Jubel der Delegierten ruft er die Partei auf, Nahles den Rücken frei zu halten. Vielleicht wäre es von der SPD-Regie klüger gewesen, Schulz hätte vor der Abstimmung diese Botschaft platziert. Das letzte Wort in Wiesbaden gehört Nahles. Der Zusammenhalt in der SPD – „ist noch ausbaufähig“.