Berlin. Immer mehr Politiker wenden sich gegen Hartz IV. Auch aus der SPD, die das System einst einführte, gibt es Vorschläge für Alternativen.

Hartz IV gehört zu Deutschland wie Schweinshaxe oder VW Golf. Die Grundsicherung ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – mit insgesamt 18,2 Millionen Hartz-IV-Beziehern in den vergangenen zehn Jahren. Doch jetzt könnte es eine Kehrtwende geben. Nicht mehr nur Linke, Aktivisten und Sozialverbände stellen sich gegen Hartz.

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– und verhindern, dass die neue Regierung nur ein bisschen an Hartz herumdoktert.

So hält die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) die Abschaffung von Hartz IV für möglich. „Ich finde, dass diese Debatte lohnt“, sagte die stellvertretende SPD-Vorsitzende dem „Tagesspiegel“. Sie griff damit einen Vorstoß des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller (SPD), auf. Dieser hatte sich für die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens ausgesprochen.

Dreyer: Grundsicherung mit Arbeit verbinden

Arbeitslose sollen dabei einen steuerfinanzierten Vollzeit-Job auf Mindestlohnniveau angeboten bekommen. Die Annahme wäre freiwillig, wer ablehnt würde, bliebe bei der bisherigen Grundsicherung. „Wir sollten diesen Gedanken des Regierenden Bürgermeisters aufnehmen, ernst nehmen und ihn weiterdenken. Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen“, sagte Dreyer.

Sie wies darauf hin, dass die große Koalition sich bereits auf den Weg zu diesem Ziel gemacht habe. „Sowohl bei dem Konzept von Michael Müller als auch im Koalitionsvertrag ist verankert, dass wir die Grundsicherung mit dem Thema Arbeit verbinden. Statt Hartz IV und Wohnung wird ein regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplatz finanziert“, sagte die Ministerpräsidentin. Langzeitarbeitslose kämen so aus dem Hilfebezug heraus und könnten am normalen Arbeits- und Gesellschaftsleben teilnehmen.

Spahn sorgte mit Äußerungen über Hartz IV für Empörung

Bewegung in die Diskussion um Hartz IV ist nicht zuletzt aufgrund von

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gekommen. Kurz vor seinem Antritt als Gesundheitsminister hat er Hartz

und damit wohl gezielt eine Welle der Empörung ausgelöst. Aber auch jenseits von Spahn debattieren viele über die Wirkung von Hartz und die Arbeitslosigkeit.

Angela Merkel (CDU) beschrieb Deutschland in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch als ein verunsichertes Land, in dem sich viele Sorgen um die Zukunft machen. Ihre Koalition hat Vollbeschäftigung zum Ziel erklärt. Auch Menschen, die lange arbeitslos waren, sollen Perspektiven bekommen. So sollen 150.000 Langzeitarbeitslose mit Lohnkostenzuschüssen einen Job in Unternehmen, gemeinnützigen Einrichtungen oder Kommunen bekommen.

Die staatlich bezahlten Jobs heißen sozialer Arbeitsmarkt. Merkel selbst sagt: „Er darf kein Ort der Aussichtslosigkeit werden.“ Sprich: Die Leute sollen eigentlich reguläre Jobs bekommen.

Einigen Parteifreunden von Merkel reicht das nicht. Der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Uwe Schummer (CDU), fordert ebenfalls ein neues Kapitel in der Arbeitsmarktpolitik. „Hartz ist nicht die letzte Antwort“, sagt er. „Wir wollen eine stärker beschäftigungs- und bildungszentrierte Politik machen, um Vollbeschäftigung zu erreichen.“

Merkels Regierungserklärung im Bürgercheck

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    Der CDU-Arbeitsmarktpolitiker Kai Whittaker glaubt nicht, dass die Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag für Vollbeschäftigung reichen. „Da müssen wir eine Schippe drauflegen.“ Das Hartz-System sei in seiner heutigen Form nicht in der Lage, Menschen nach langer Zeit ohne Arbeit wieder einzugliedern. „Wir brauchen einen Neustart.“

    857.000 Menschen gelten als langzeitarbeitslos

    Rund sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher gibt es, viele haben noch einen Minijob. 857.000 gelten als langzeitarbeitslos. Guckt man sich die Tabellen der Bundesagentur für Arbeit genauer an, sieht man: Bewegung gibt es im System schon heute. Jeden Monat verlassen bis zu vier Prozent der Hartz-IV-Bezieher die Grundsicherung, eine ähnlich große Zahl kommt wieder in den Bezug. Rund drei Viertel der Betroffenen, die es aus Hartz heraus schaffen, kommen zumindest im nächsten Vierteljahr nicht wieder in den Bezug zurück.

    Wer neu auf Hartz IV angewiesen ist, ist dies oft nicht auf Dauer, das gilt vor allem für Jüngere. Bei den 15- bis 25-Jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit, kürzer als ein Jahr im System zu bleiben, bei 53 Prozent, bei den 25- bis 55-Jährigen bei 46 Prozent. Bei ihnen liegt das Risiko, vier Jahre und länger Grundsicherung zu brauchen, bei 22 Prozent. Die über 55-Jährigen haben sogar ein Risiko von 45 Prozent, vier Jahre und länger auf Hartz IV angewiesen zu sein.

    Der Beschäftigungsexperte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Holger Schäfer, meint, es sei zu wenig attraktiv, aus Hartz herauszukommen. „100 Euro werden nicht angerechnet, wenn man mit Hartz IV eine Arbeit aufnimmt.“ Ein Minijob lohne sich für einen Hartz-IV-Bezieher noch – schon ein Teilzeitjob oft nicht.

    Mehr Unterstützung beim Deutsch lernen

    Doch wie könnten überhaupt mehr Betroffene einen Job finden? „Über die Hälfte der Langzeitarbeitslosen hat keine Berufsausbildung“, sagt der CDU-Politiker Whittaker. Viele sprächen nicht ausreichend Deutsch. „Wir tun viel zu wenig dafür, dass sich dies ändert.“ Schnellere Hilfe etwa bei Schulden seien nötig und rasche Therapieangebote auch bei Suchtkrankheiten.

    Sein Parteifreund Schummer fordert kreative Instrumente. „Die Schlüssel sind Assistenz, Unterstützung, Begleitung der Arbeitslosen auf dem Weg in ein normales Arbeitsleben“, sagt er. „Hilfe zur Selbsthilfe statt staatlicher Reparaturbetrieb – das soll das Leitmotiv der Arbeitsmarktpolitik dieser Koalition werden.“

    Mit Spannung wird erwartet, was Hubertus Heil (SPD) vorlegt. In seiner Antrittsrede im Bundestag sagte der Arbeitsminister: „Die eigentliche Frage ist, ob wir es schaffen, nicht Menschen in Armut zu verwalten, sondern die Chance auf ein freies und selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.“ (dpa/epd)