Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beobachtet eine „epidemische Verbreitung“ von organisierten Lügen durch soziale Netzwerke.

„Ich neige nicht zu Alarmismus“, sagt der Bundespräsident. Doch es folgt ein „aber“. Am Mittwochmorgen, kurz bevor wenige hundert Meter weiter der Bundestag zur Generaldebatte zusammenkommt, malt Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue das Bild seines Landes im Digitalzeitalter. Ein Land, das gerade Gefahr läuft, aufs Spiel zu setzen, was es stark macht: den fairen, demokratischen Streit, die klare Trennung von Fakten und Meinungen, die seriöse Debattenkultur. Der Bundespräsident neigt nicht zu Panikmache, aber die Warnung ist deutlich.

Sicher, räumt Steinmeier ein, die öffentliche Diskussion „gelingt in Deutschland immer noch besser als anderswo“. Doch an seiner grundsätzlichen Diagnose ändert das wenig: „Die digitalen Medien treiben die Parzellierung der Öffentlichkeit voran, Parallelwelten entstehen.“

Welten, in denen die Selbstbestätigung durch den Austausch mit Gleichgesinnten vorherrsche und alles ausgeblendet werde, was der eigenen Sichtweise widerspreche. Und: Welten, in denen die demokratischen Spielregeln oft nicht gelten – im Gegenteil: Organisiertes öffentliches Lügen sei zwar kein neues Phänomen, sagt Steinmeier, „neu aber ist die epidemische Verbreitung“ über die digitalen Medien.

Steinmeier bemerkt „unerklärliche Gereiztheit“ im Netz

Überprüfbare Fakten müssten sich heute zunehmend gegen falsche und gefühlte Wahrheiten behaupten. Und: Nie wurden Verschwörungstheorien so leicht verbreitet wie durch die digitalen Medien. Wer das mit Meinungsfreiheit rechtfertige, liege falsch: „Meinungsfreiheit ist eine Farce“, zitiert er Hannah Arendt, wenn schlichte Tatsachen nicht mehr anerkannt würden. Oder: „Wie sollen wir die realen Probleme, zum Beispiel den Klimawandel, angehen“, fragt der Bundespräsident, „wenn andere die wissenschaftlichen Fakten bestreiten?“

Steinmeier schwört neue Bundesregierung auf schwere Zeiten ein

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    Zum dritten Mal hatte Steinmeier am Mittwoch Wissenschaftler, Experten und Praktiker zum „Forum Bellevue“ eingeladen, um über die Zukunft der Demokratie zu debattieren. Das Thema liegt ihm am Herzen. So sehr, dass er nicht nur Gastgeber sein will: Steinmeier moderiert, kommentiert und wird dabei zum Teil sehr persönlich: Er spricht von der „unerklärlichen Gereiztheit“, die ihm auf seiner Facebook-Seite entgegenschlägt, von Leuten die ihm dort „die Pest an den Hals wünschen – oder den Strick“.

    Steinmeier will keine Debatte über Abschaffung des Rundfunkbeitrags

    Und er lässt durchaus Sehnsucht durchblicken nach einer Zeit, als sich die Deutschen noch abends mehrheitlich am „Lagerfeuer der ,Tagesschau‘“ versammelten, statt ihre politische Weltsicht aus Tweets, Videoschnipseln und Facebook-Nachrichten zusammenzubauen.

    „Jeder Bürger braucht Inseln der Verlässlichkeit“, meint Steinmeier. Und es sei ein gutes Zeichen, dass der oft beklagte Glaubwürdigkeitsverlust der traditionellen Medien im Augenblick offenbar gestoppt sei. Mehr als zwei Drittel der Deutschen halten einer Umfrage zu Folge die Informationen aus Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften für glaubwürdig – 13 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Er hoffe daher auch, „dass uns eine Debatte über die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wie sie andernorts geführt wird, erspart bleibt“.