Athen. Der türkische Staatschef kündigt die Eroberung weiterer Kurden-Städte östlich des Euphrat an – und droht mit Invasion im Nordirak.

Für die Menschen in der nordsyrischen Provinz Afrin gab es am Newroz-Fest, das die Kurden auf der ganzen Welt am Mittwoch begangen haben, keinen Grund zum Feiern. Traditionell macht man zum kurdischen Neujahrsfest, das zugleich den Beginn des Frühlings markiert, Ausflüge in die Natur. Doch in Afrin sind es jetzt nicht Touristen, sondern Flüchtlinge, die sich in langen Trecks auf den Überlandstraßen entlangschlängeln.

Die Menschen fliehen vor der türkischen Armee, die vor zwei Monaten in Nordsyrien einmarschierte, und vor den Kämpfern der mit Ankara verbündeten Freien Syrischen Armee. Mehr als 150.000 Menschen seien während der vergangenen Tage aus der Stadt geflohen, berichten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Seit 2012 wurde das überwiegend von Kurden bewohnte Afrin von der syrischen Kurdenpartei PYD und ihren Milizen, den „Volksbefreiungseinheiten“ YPG, kontrolliert.

Erdogan: „Werden uns nicht auf diese Operation beschränken“

Nach der Eroberung Afrins plant Präsident Erdogan bereits die nächsten Feldzüge in Syrien und im Irak. „Wir werden uns nicht auf diese Operation beschränken, es wird Ausweitungen geben“, kündigte Erdogan in Ankara in einer Rede vor Richtern und Staatsanwälten an. Im Rahmen des Syrien-Feldzugs habe man bisher 3698 „Terroristen neutralisiert“, so Erdogan. Mit der Einnahme von Afrin sei ein wichtiger Teil der Operation abgeschlossen. „Wir werden aber dieses Vorgehen fortsetzen, bis wir den Korridor über Manbidsch, Ayn al-Arab, Tel-Abyad, Ras al-Ayn und Kamischli vollständig beseitigt haben“, erklärte der Präsident.

Chaos und Plünderungen in Afrin

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    Die Kurdenhochburg Manbidsch liegt etwa 150 Kilometer östlich von Afrin am Westufer des Euphrat. Die anderen von Erdogan genannten Orte befinden sich östlich des Euphrat. Das von Erdogan als Korridor bezeichnete Gebiet ist ein etwa 400 Kilometer langer Streifen entlang der türkischen Grenze vom Euphrat bis zum Irak.

    Noch wird er von den Kurdenmilizen der YPG kon­trolliert. Die PYD und die YPG als ihr militärischer Arm sind syrische Ableger der als Terrororganisation verbotenen kurdischen PKK. Ziel der türkischen Militäroperation in Syrien ist es, die YPG-Milizen aus der Grenzregion zu vertreiben. Damit will Ankara verhindern, dass dort eine kurdische Selbstverwaltungszone und später womöglich ein Kurdenstaat entsteht, der auch bei den türkischen Kurden Autonomiebestrebungen anfachen könnte.

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    Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
    Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. © dpa | Kayhan Ozer

    Erdogan plant aber nicht nur, die „Terroristen“ der YPG aus Nordsyrien zu vertreiben. Er will auch militärisch gegen die Stützpunkte der PKK im Nordirak vorgehen. Die militärische Führung der PKK hat ihr Hauptquartier in den nordirakischen Kandil-Bergen, einer Gebirgsregion an der Grenze zur Türkei.

    Am Dienstag griffen türkische Kampfflugzeuge mit Bomben und Raketen mehrere PKK-Stellungen im Nordirak an. Dabei seien 30 von den Rebellen genutzte Lager und 15 Höhlen zerstört worden, meldete das Militär. Die türkischen Streitkräfte bombardieren seit Jahren die Schlupfwinkel der PKK im Nordirak und stießen schon seit der Ära von Saddam Hussein immer wieder in die Bergregion vor, ohne dass es ihnen gelungen wäre, die PKK zu vertreiben.

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      Jetzt erwägt Erdogan offenbar eine groß angelegte Invasion. Ein neuer Schwerpunkt der PKK-Aktivitäten im Nordirak ist die Region Sindschar. „Wir haben der Zentralregierung in Bagdad gesagt, dass die PKK dort ein neues Hauptquartier aufbaut“, sagte Erdogan. Man habe die irakische Regierung aufgefordert, „die Sache zu lösen“. Wenn sie das nicht tue, werde die Türkei es selbst übernehmen. „Wir könnten plötzlich eines Nachts in Sindschar einmarschieren und die Region von Terroristen säubern“, warnte Erdogan.

      Will Erdogan Teile des Irak annektieren?

      Während der türkische Vizepremier und Regierungssprecher Bekir Bozdag ankündigte, die Türkei werde ihre Truppen bald aus dem syrischen Afrin zurückziehen und die Region „an ihre rechtmäßigen Besitzer übergeben“ – womit aber wohl kaum Kurden gemeint sein dürften –, hat die Türkei im Nordirak offenbar andere Pläne. Wenn nötig, werde sie die „Terrorcamps“ der PKK im Nordirak „dauerhaft unter Kontrolle“ bringen, sagte Erdogan. Der türkische Staatschef scheint mit dem Gedanken zu spielen, Teile des Nordirak zu annektieren.

      Erdogans Kriege dienen nicht zuletzt innenpolitischem Kalkül: Der Syrien-Feldzug ist unter Türken sehr populär. Laut Umfragen stehen rund 55 Prozent der Wähler hinter Erdogans Politik – für den Präsidenten eine gute Ausgangslage vor den spätestens 2019 fälligen Parlaments- und Präsidentenwahlen. Dafür nimmt es Erdogan in Kauf, dass er sich international immer stärker isoliert.

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