Berlin. Die Koalitionsgespräche zwischen SPD und Union zeigen den schwindenden Rückhalt für Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz.

Die Kanzlerin weiß, dass viele Deutsche am 135. Tag nach der Wahl mit einem unguten Gefühl aus dem Bett gekommen sind. Nicht, weil es immer noch keine neue Regierung gibt und es im schwarz-roten Finale von Union und SPD so richtig „quietscht“, wie es die sozialdemokratische Fraktionschefin Andrea Nahles prophezeit hatte.

Noch lauter gequietscht hat es über Nacht an den Weltbörsen. Milliardenwerte sind auf einen Schlag vernichtet worden, auch am deutschen Aktienmarkt, was viele Sparer trifft. Aber was haben panikartige Verkäufe von Finanzprofis aus Sorge vor steigenden Zinsen mit der quälenden Suche nach einer GroKo zu tun?

Angela Merkel sieht da einen Zusammenhang. „Wir dürfen das Zentrale nicht aus dem Auge verlieren, wenn wir uns die unruhigen Börsenentwicklungen der letzten Stunden anschauen“, sagt die Kanzlerin um kurz nach 10 Uhr beim Eintreffen in der CDU-Parteizentrale. Es stimmt ja, die Wirtschaft schätzt politische Instabilität nicht. Aber das Ringen von CDU, CSU und SPD über befristete Arbeitsverträge und eine Angleichung von Ärztehonoraren dürfte Investoren in Tokio, London oder New York ziemlich kalt lassen.

Verhandler von Union und SPD bereiten sich auf lange Nacht vor

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    Frankreichs Präsident Macron schafft längst Fakten

    Ganz neben der Spur ist der an die SPD gerichtete Appell der Kanzlerin dennoch nicht. Deutschland ist auf europäischem Parkett nicht handlungsfähig. Das nervt internationale Partner. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schafft längst als europäischer Alleinunterhalter Fakten, statt auf die gefesselte Kanzlerin zu warten. Seit mehr als vier Monaten ist die mächtigste Frau der Welt quasi eine „lame duck“. Unfähig, eine Regierung zu bilden. Im Bundestag sieht sie sich einer starken AfD gegenüber, die die Kanzlerin „jagen“ will.

    Wie oft hat Merkel seit der Bundestagswahl am 24. September wohl die Entscheidung verflucht, für eine vierte Runde im Kanzleramt anzutreten? Erst leimte sie FDP-Chef Christian Lindner, der lieber gar nicht als mit ihr regieren wollte. Und nun sitzt Merkel mit einem SPD-Chef Martin Schulz am Verhandlungstisch, den nicht einmal mehr die eigenen Leute ernst nehmen. Dazu gesellt sich Horst Seehofer. In Bayern entmachtet von Markus Söder, nun auf der Suche nach einem Versorgungsposten in Berlin. Es ist ein Trio des Weiter-so.

    Der Frust der Wähler wird sich nicht nur an der SPD entladen

    Merkels Nimbus aus vergangenen Schlachten in Berlin und Brüssel, ihre Gegenüber in Marathonsitzungen mürbe zu machen und ihre Position durchzusetzen, war schon im November beim Jamaika-Aus dahin. SPD-Unterhändler erzählen, die Kanzlerin moderiere eher, führe nicht, habe keine Prokura, müsse alles mit CSU und den Ministerpräsidenten abstimmen. CDU-Landesfürst Volker Bouffier, der im Herbst in Hessen um seine Wiederwahl kämpft, will der SPD nicht alles hergeben: „Unsere Wähler erwarten von uns, dass wir unsere Positionen hier auch verteidigen“, sagt er vor dem Adenauer-Haus.

    Merkel ist bewusst, wie viel auf dem Spiel steht. Wird das nichts mit der SPD, könnte es noch ungemütlicher werden. Ringt sie sich dann zu einer Minderheitsregierung durch? Lässt sie sich in einer inszenierten Vertrauensfrage das Misstrauen des Bundestages aussprechen, um die Union in eine Neuwahl zu führen? Wie würden die Bürger auf ein erneutes Scheitern der von Merkel moderierten Regierungsbildung reagieren? Sie kann nicht darauf vertrauen, dass der Frust sich nur an der SPD entlädt.

    Merkel hat bereits viele Zugeständnisse gemacht

    Eine Umfrage, wonach Union und SPD nicht einmal mehr zusammen auf 50 Prozent der Wählerstimmen kommen, habe im Kreis der angehenden Koalitionäre Eindruck hinterlassen, wird am Dienstag berichtet. Dementsprechend deutlich wird Merkel: „Jeder von uns wird schmerzhafte Kompromisse noch machen müssen. Dazu bin ich auch bereit, wenn die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen.“ Merkel hat bereits viele Zugeständnisse gemacht und dafür harsche Kritik aus Union und Wirtschaft in Kauf genommen.

    Das fängt beim Geld an. Merkel mutet den Arbeitgebern viel zu. Milliarden sollen in Renten- und Gesundheitssystem gepumpt werden, damit die SPD ihre GroKo-müden Mitglieder mit einem Umverteilungspaket von einem erneuten schwarz-roten Bündnis überzeugen kann. Merkels Kalkül: Machen die mehr als 450.000 Genossen am Ende mit der geballten Faust in der Tasche den Weg frei, kann sie in Europa Vollgas geben.

    Seehofer wird als Arbeits- und Sozialminister gehandelt

    Merkel hat trotz der Flüchtlingskrise und des langen Bruderkampfes mit der CSU noch immer passable Zustimmungswerte. Sobald sie wieder voll handlungsfähig sei, könne sie den Bürgern das geben, was diese an der Physikerin am meisten schätzten: Stabilität. Aber stimmt das? Die Hände zur Raute und schöne Bilder mit Macron dürften für die kommenden vier Jahre zu wenig sein. Zumal diese Koalition, wenn sie denn kommt, mit einer großen Hypothek antreten wird. Schwarz-Rot wohnt kein Zauber inne. Da kann noch so viel von „Aufbruch“ die Rede sein.

    CDU, CSU und SPD quälen sich in die neue Partnerschaft hinein. Das Streitthema Flüchtlinge wurde nur oberflächlich befriedet. Die CSU wird mit ihrer durchgesetzten „Obergrenze“ in den Landtagswahlkampf ziehen, mit ihrem neuen Regenten Markus Söder versuchen, die absolute Mehrheit in Bayern zu verteidigen. Da kann die SPD noch so schäumen. Der von Söder entmachtete Seehofer, der auf die 70 zugeht, will in Berlin im Herbst seiner Karriere in einem großen Ministerium noch mal was bewegen. Er wird als Arbeits- und Sozialminister gehandelt. Steht Seehofer für Aufbruch?

    Schulz wird mit Äußerungen aus der zweiten Reihe demontiert

    Gemessen an der Lage, in der sich Schulz befindet, können Merkel und Seehofer fast komfortabel in die Zukunft schauen. Über Schulz heißt es, er könne in den Verhandlungen, die sich in den entscheidenden Stunden an den bekannten Streitpunkten Zwei-Klassen-Medizin und Arbeitsrecht verhakten, nichts alleine entscheiden. „Ohne Nahles wäre er aufgeschmissen“, sagt ein Sozialdemokrat. Ein anderer Unterhändler ergänzt: „Der Martin tut mir fast schon leid.“ Mitleid ist in der Politik die Höchststrafe. Mitleid bedeutet Autoritätsschwund. Die in einer Umfrage auf 17 Prozent abgerutschte SPD scheint völlig von der Rolle zu sein.

    Ausgerechnet zum GroKo-Finale wird der erst im Dezember mit 82 Prozent wiedergewählte Vorsitzende mit Äußerungen aus der zweiten Reihe und Indiskretionen demontiert. Das Ziel der Heckenschützen: Schulz soll dem Kabinett fernbleiben. Am Tag nach der 20-Prozent-Wahlpleite war Schulz mehrfach in einer Pressekonferenz gefragt worden, ob er ausschließe, unter Merkel Minister zu werden. „Wiederholen Sie die Frage noch mal. Ich bin ein bisschen schwer von Kapee“, sagte Schulz, um Zeit zu gewinnen. Um zu antworten: „Ja. Ja, ganz klar! In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“

    Verteilung der Ministerien steht möglicherweise im Vertragsentwurf

    Jetzt will Schulz Außenminister und Vizekanzler werden. Wieder eine Rolle rückwärts. Einige in der SPD-Führung sind entsetzt. Schulz müsse zu seinem Wort stehen. Sonst würden bei den sieben Regionalkonferenzen, auf denen er vom 13. Februar an für den Koalitionsvertrag werben will, die Mitglieder ihn „grillen“. Bis zum Dienstagabend war noch unklar, ob die Verteilung der Ministerien zwischen CDU, CSU und SPD letztlich im Vertragsentwurf stehen wird.

    Das hatte Schulz angekündigt. Wie groß die Angst vor der SPD-Basis ist, zeigt auch die bis zuletzt offene Frage, ob der Entwurf des Koalitionsvertrages am Mittwoch feierlich von Merkel, Seehofer und Schulz unterschrieben werden sollte. 2013 war das so. Aber wie sähe das aus, Schulz’ Signatur, bevor der Mitgliederentscheid angefangen hat?