Berlin. Die Tat von Kandel wirft viele Fragen auf und erfordert eine genaue Aufklärung. Nur dann lassen sich Generalisierungen ausschließen.

Vor der Drogerie in Kandel stehen Kerzen. Und auf zwei Händen aus Stein, in denen ein Engel schläft, steht die Frage geschrieben: „Mia, warum?“ Dieses Warum taucht immer wieder an den Tatorten unserer Zeit auf. Dort, wo ­Attentäter einen Lkw in die Menge lenkten, dort, wo ein Schüler seine Mitschüler tötete, und dort, wo ein 15-jähriger Afghane seine 15-jährige Ex-Freundin ersticht. Es steht stellvertretend für viele Fragen, die sich nicht gleich erklären lassen, vor allem aber für die Zurückgebliebenen und ihren plötzlichen Schmerz.

Die Tat von Kandel löst große Empörung aus, weil hier ein Mensch getötet wurde, ein junges Mädchen, das noch alles vor sich hatte. Das vielleicht zum ersten Mal verliebt war und auf einen Jungen vertraute – der ihr das Wertvollste genommen hat, ihr Leben.

Die Tat löst aber auch Wut aus, weil hier einer ein Kapitalverbrechen beging, der in Deutschland Asyl suchte. Der aus Afghanistan als unbegleiteter Jugendlicher kam. Ohne Eltern, ohne Freunde, der vom Staat unterstützt wurde und schließlich seine Dankbarkeit mit einer Bluttat ausdrückte.

Doch ist es so einfach?

Bei aller Wut und Empörung hilft Hetze am wenigsten

Parteianhänger der AfD nutzen diese Gefühle und unbeantworteten Fragen, um mit Mias Tod Politik zu machen. Gegen Flüchtlinge zu hetzen, generelle Abschiebungen und einen Aufnahmestopp zu fordern. In sozialen Netzwerken weisen sie darauf hin, dass Deutschland das nun alles den „Gutmenschen“ und der „Willkommenskultur“ der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu verdanken habe. Bei aller Wut und Empörung hilft Hetze am wenigsten. Denn sie hilft nicht, klar zu sehen. Es müssen die richtigen Fragen gestellt werden. Nüchtern, soweit es bei aller Wut und Trauer möglich ist.

Kandel: 15-jähriger Afghane ersticht Jugendliche

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    So wie der Bürgermeister von Kandel. Der rief, nachdem er E-Mails „in einer beschämenden Art“ erhalten habe, zu Zurückhaltung und Sachlichkeit auf und fragte gleichzeitig, ob es Versäumnisse im Umgang mit dem Jugendlichen gegeben habe. Denn folgende Frage steht im Raum: Hätten Polizei und Strafbehörden auf die Anzeige der Eltern gegen den Jungen wegen Beleidigung, Nötigung und Bedrohung anders reagieren müssen? Wurde alles getan, was zu diesem Zeitpunkt möglich war? Und haben die Betreuer aus der Jugend-WG, in der der Afghane lebte, ihn gut genug betreut?

    Minderjährige Flüchtlinge stellen ein Risiko dar

    Auch der Vater des Mädchens stellte den Behörden eine wichtige Frage: Er sagte, dass er nicht glaube, dass der Afghane erst 15 Jahre alt sei. Und er fragte damit: Habt ihr ihn gut genug überprüft, als ihr ihn aufgenommen habt? Hat er schon Straftaten in anderen Ländern begangen? Diese Fragen sind ernst zu nehmen. Es muss alles aufgeklärt werden.

    Nur, wenn Behörden jetzt genau ermitteln, was in Kandel falsch lief, welche Vergangenheit der Jugendliche aus Afghanistan mitbrachte, lassen sich Generalisierungen ausschließen. Nur dann wird deutlich, dass Täter wie der Afghane nur einen Bruchteil unter den 55.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ausmachen. Trotzdem müssen wir auch anerkennen, dass minderjährige Flüchtlinge ein Risiko darstellen. Dass sie Traumata und andere Einstellungen mitbringen – und dass Integration eine große, schwere Aufgabe ist.

    Eine Zurückhaltung in der Berichterstattung, wie sie die „Tagesschau“ vorgenommen hat und erst nicht über die Tat berichten wollte, lässt zu viel Raum für Interpretation. Die Macht des Aussprechens dessen, was ist, ist immer – zitiert nach dem deutschen Politiker Ferdinand Lassalle – das gewaltigste politische Mittel gewesen. Dies gilt für den Journalismus ebenso wie für das Vertrauen in Behörden, Polizei und Regierung.