Berlin. Die Krise ihrer Partei hat der SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles zum Aufstieg verholfen. 2018 soll ihr Jahr werden. Eine Nahaufnahme.

Am Morgen macht sie das Frühstück, bringt Tochter Ella zur Schule, bereitet das Mittagessen vor. Jetzt ruft die Politik, buchstäblich: Der Unions-Fraktionschef klingelt durch, dann der SPD-Generalsekretär. Wie viele Frauen, alleinerziehende zumal, ist Andrea Nahles ein Multitasking-Talent. Via Skype verlinkt die 47 Jahre alte Politikerin zwei Welten, Berlin und Weiler, Hauptstadt und Eifeldorf. „Wenn ich zu Hause hinter meinem Haus über die Wiese gehe, bin ich direkt am Reitstall.“ Sie hat einen Friesen, „ein schwarzes schönes Pferd“, schwärmt sie.

Stallgeruch spricht ihr in der SPD keiner ab, die Fraktionschefin sitzt fest im Sattel und wird der Partei die Sporen geben. Keine Geschichte vom Pferd ist für Nahles auch, dass die SPD abgehoben wirkt. Ist es eine List des Schicksals, dass mit ihr und Parteichef Martin Schulz zwei ins Geschirr gehen, die nahbar, emotional, heimatverbunden sind?

In ihrem Eifeldorf ist Nahles nur „et ’Drea“

Der schönste Ort in Berlin sei der Weinkeller der Landesvertretung Rheinland-Pfalz, hat Nahles auf einem Fragebogen notiert. Darauf muss man erst mal kommen. „Ich bin schlicht und ergreifend kein Städter“, bemerkt sie. In Köln, Hamburg oder München würde es ihr genauso ergehen. „Wer einmal wissen will, wie die Andrea wirklich ist“, hat Außenminister Sigmar Gabriel auf einem Parteitag gesagt, „muss sie besuchen bei sich zu Hause.“

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    Wenn sie im 475-Seelen-Dorf ist, „reden die Leute mit mir normal. Ich bin nicht die Fraktionsvorsitzende, ich bin „et ’Drea“. Zu Weiberfastnacht macht die Maurerstochter daheim eine Frauenbar auf, und in der Scheune mit einem alten Ofen aus Stein kommt schon mal das halbe Dorf zum „Backes“ zusammen.

    In Berlin ist Nahles auf Montage. Beim Abschiedsessen im Kabinett nimmt die Kanzlerin sie beiseite: Ob sie eine Wohnung gefunden habe? Angela Merkel weiß natürlich, dass ihre Sozialministerin vier Jahre lang in einem zwölf Quadratmeter großen Separee des Büros übernachtet hat. Viele Arbeitstage verbringt sie gleich in ihrem Bonner Sitz.

    Der Kerl der SPD ist jetzt eine Frau

    Job und Familie miteinander zu vereinbaren, fällt ihr nun als Fraktionschefin schwerer. „Ich habe weniger Einfluss auf meine Termine.“ Sie hat jetzt eine Wohnung in Berlin, irgendwo in Moabit. Zum Abschied wird sie im Kabinett gefragt, ob sie die Runde vermisse. Wehmut liegt in der Luft. „Ab morgen gibt’s in die Fresse“. Heute noch nicht, sollte das heißen. Großes Gelächter. Als sie es öffentlich wiederholt, gibt es einen Aufschrei.

    Hätte ihr Vorgänger Peter Struck so geredet, hätte es geheißen, so ist er, der Peter. Der Kerl der SPD ist jetzt eine Frau. Im Bezirksvorstand, lange her, wurde mal heimlich gemessen, wie lange Frauen und Männer reden. „Ich habe die Quote der Frauen versaut, weil ich so lange geredet habe wie die Männer. Aber das ist dann eben meine Form von Feminismus – sich von den Kerlen nicht das Wort abschneiden lassen.“

    Abgezockt und machtbewusst ist sie, schier unaufhaltsam drängt sie nach vorn. SPD-Chef Franz Müntefering tritt 2005 zurück, als Nahles gegen seinen Willen als Generalsekretärin kandidiert. Bald ist sie auf Merkels Radarschirm. „Bei der weiß ich wenigstens, wo ich dran bin. Die steht. Die hält was aus“, soll Merkel schon vor fast zehn Jahren über sie gesagt haben.

    Nahles will Merkel nicht kopieren

    An die vier zurückliegenden Ministerjahre denkt Nahles gern zurück. Es geht turbulent los, als sie mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Rente mit 63 absteckt. Beide Häuser liegen an der Wilhelmstraße, die Finanzer reden von den „teuren Kollegen von der anderen Straßenseite“. Nahles verschafft sich Respekt.

    Nahles findet, dass sie als Ministerin hinter der Funktion verschwand. Als Frontfrau der SPD steht sie mehr und kritischer im Fokus, angefangen bei Äußerlichkeiten wie Kleidung und Frisur. Sie habe kein Konzept für den Kleiderschrank wie Maggie Thatcher – oder Angela Merkel, die sich Variationen von Blazern wie Dienstuniformen zurechtlegt, „praktisch ist das sicher, aber ich habe nicht vor, sie zu kopieren“.

    Die Stationen ihrer Politikwerdung sind bekannt, die Juso-Zeit, das Jahrzehnt im Kreistag, Nahles im Bundestag, Nahles als SPD-Vize, Nahles als Generalsekretärin, Nahles als Ministerin. In ihrer Abizeitung gab sie „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ als Berufswunsch an.

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      Nahles ist in der SPD fest verankert

      Eines ist sie jedenfalls schon: Königsmacherin. Nur wenige SPD-Politiker sind so in der Partei verankert, so vernetzt, so breit aufgestellt. Die Niederlage bei der Bundestagswahl sieht sie voraus und plant schon für die Zeit danach: Sie will den Fraktionsvorsitz, eine Schaltstelle.

      Nahles hat über die Jahre ein Team um sich geschart, lauter Profis, die der Öffentlichkeit wenig, aber SPD-Insidern viel sagen: Sebastian Jobelius, Jan Busch, Hannes Schwarz, Lena Daldrup, Thorben Albrecht, Benjamin Mikfeld. Es ist keine Frage, dass sie die Fraktion zum strategischen Zentrum in der SPD machen wird. Die Frage ist nur, wohin die Reise genau geht. Und: Mit, ohne oder gegen Schulz?

      Stunden am Telefon verbringt Nahles spätabends mit Olaf Scholz. Mit Schatzmeister Dietmar Nietan ist sie befreundet. Als die widerspenstige NRW-Landesgruppe auf Nahles eingeschworen werden muss, kämpft Nietan für sie. Was sagt man, wenn man gerade gewählt wurde, obgleich die eigene Partei am Boden liegt? „Adieu tristesse, bonjour Stress“ oder umgekehrt? Nahles sagt: „Dies ist ein Tag, der mich sehr glücklich macht.“ So redet eine Krisengewinnlerin.

      Der SPD-Bundesvorsitzender Martin Schulz und SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles im Bundestag.
      Der SPD-Bundesvorsitzender Martin Schulz und SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles im Bundestag. © dpa | Michael Kappeler

      Privat gilt das nicht. Die Trennung von ihrem langjährigen Partner, einem Manager, hat Nahles wehgetan, ebenso das Scheitern ihrer Ehe. Sie ist hart im Nehmen und wird früh auf die Probe gestellt. Am Wochenende vom Tschernobyl-GAU erlebt die 16-Jährige ihr eigenes Drama. Es kündigt sich mit einem Klacken an, eine Sehne in der linken Hüfte reißt, der Rest ist eine Leidensgeschichte: Mehrere OPs und monatelange Krankenhaus-Aufenthalte. Bis heute hat sie große Einschränkungen beim Gehen. Mit dem Sport ist Schluss.

      Nahles hofft auf einen Kredit von der SPD-Basis

      Dabei war sie gut im Weitsprung, hat für „Jugend für Olympia“ trainiert. Drei Jahre später noch ein Schock: Ein Autounfall in Schweden, die Narbe auf ihrer Stirn erinnert daran. Sie kämpft sich zurück, unverzagt, unverwüstlich. In den Kohl-Jahren wird sie politisch sozialisiert – in der Opposition. In die SPD geht sie, um zu regieren. Doch Nahles spürt das Misstrauen, der Basis graut es vor einer großen Koalition. Die SPD-Frontfrau glaubt, dass Schulz und sie einen „Kredit“ haben, „den brauchen wir jetzt – bis auf die letzte Unze“.

      Als Union, FDP und Grüne Sondierungsgespräche führen, liest Nahles das Buch von FDP-Chef Christian Lindner, der mit seiner Partei gerade die Rückkehr in den Bundestag geschafft hat. Da steckt eine Menge Organisation dahinter, für so was interessiert sie sich. Die tiefen Verletzungen der FDP fallen ihr auf. Dass die Kanzlerin sich hauptsächlich um die Grünen kümmert, lässt einen Verdacht aufkommen: „Merkel ist von ihrem Instinkt verlassen worden.“

      Mit der Folge, dass Nahles und die SPD „zwischen Baum und Borke“ sind. Wenn es zur Koalition mit Merkel kommt, dann nach neuen Spielregeln. Dann will die SPD nicht zulassen, dass das Kanzleramt vorab Konflikte klein schmirgelt. Nahles ist überzeugt, „dass wir wieder mehr Debatten im Parlament brauchen, um Unterschiede klarer zu machen“. Die Art zu regieren und der Umgang mit dem Parlament müssten sich „grundsätzlich ändern“. Es ist für die SPD wichtig, ihr Profil zu stärken. Ein „Weiter so“ kann es nicht geben, „weder für die CDU noch für uns“. Da, wo Merkel Reibungsverluste sieht, macht Nahles eine neue Energiequelle aus.