Berlin. Ein Jahr ist der Berliner Anschlag her. Ein Feuerwehrmann, ein Angehöriger und ein Retter berichten, wie es ihnen seitdem ergangen ist.

Vor einem Jahr verübte der Attentäter Anis Amri mit einem gestohlenen Lastwagen auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz den bisher schwersten islamistischen Anschlag in Deutschland. Zwölf Menschen starben. Helfer,

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leiden bis heute an den Folgen.

• Der Feuerwehrmann

Es sind diese dunklen Augen einer Frau, die Frank Hoedt immer wieder anblicken. Sie tauchen auf, wenn er weit weg ist von Einsatzstellen, Martinshörnern, Feuerwachen, beim Einschlafen oder beim Fernsehen. Sie ziehen ihn immer wieder aufs Neue zurück an den Breitscheidplatz. Es ist dann wieder 20.11 Uhr, am 19. Dezember 2016.

Vor ihm die zerstörten Weihnachtsbuden, die Lichterketten, die Stille. „Wie sollen wir das bloß schaffen?“, denkt der Feuerwehrmann. Dann setzen die Automatismen ein. Er ist der Erste vor Ort, organisiert den Rettungsdienst, sichtet vor. Die Frau mit den dunklen Augen zieht Hoedt am Arm, sagt: „Mein Mann, mein Mann.“ Hoedt will mit ihr mitgehen. Und läuft doch weiter. Er muss Verletzte kategorisieren, damit die Retter denen helfen, denen noch zu helfen ist.

Gedenken an Terror – Mahnmal vorgestellt

Am ersten Jahrestag des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz ist an der Gedächtniskirche ein Mahnmal für die Terroropfer eingeweiht worden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm an dem symbolischen Akt teil.
Am ersten Jahrestag des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz ist an der Gedächtniskirche ein Mahnmal für die Terroropfer eingeweiht worden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm an dem symbolischen Akt teil. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Das Mahnmal arbeitet mit nur wenigen Elementen: Es besteht vor allem aus einem knapp 17 Meter langen goldenen Riss im Boden. Für den am Dienstag enthüllten Teil sollten Hinterbliebene Metallblöckchen in einen Ofen schieben, das flüssige Metall sollte dann von einem Fachmann in den Riss eingefügt werden.
Das Mahnmal arbeitet mit nur wenigen Elementen: Es besteht vor allem aus einem knapp 17 Meter langen goldenen Riss im Boden. Für den am Dienstag enthüllten Teil sollten Hinterbliebene Metallblöckchen in einen Ofen schieben, das flüssige Metall sollte dann von einem Fachmann in den Riss eingefügt werden. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Der Riss im Boden soll die tiefe Wunde symbolisieren, die das Attentat im Leben der Betroffenen hinterließ.
Der Riss im Boden soll die tiefe Wunde symbolisieren, die das Attentat im Leben der Betroffenen hinterließ. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Als Zeichen der Trauer säumen weiße Rosen den Riss im Boden.
Als Zeichen der Trauer säumen weiße Rosen den Riss im Boden. © dpa | Maurizio Gambarini
Kerzen und Blumen auf den Treppen vor der Gedächtniskirche: Die Namen der Opfer und deren Nationalität sind in die Stufen geschrieben. So soll die Erinnerung an die zwölf Toten wachgehalten werden.
Kerzen und Blumen auf den Treppen vor der Gedächtniskirche: Die Namen der Opfer und deren Nationalität sind in die Stufen geschrieben. So soll die Erinnerung an die zwölf Toten wachgehalten werden. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sprach Worte der Trauer und Anteilnahme.
Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sprach Worte der Trauer und Anteilnahme. © dpa | Maurizio Gambarini
Hochrangige Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der Berliner Parlamentspräsident Ralf Wieland (SPD) und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU, v. l.) nahmen an der Gedenkveranstaltung teil.
Hochrangige Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der Berliner Parlamentspräsident Ralf Wieland (SPD) und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU, v. l.) nahmen an der Gedenkveranstaltung teil. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Ein Trauernder stellte ein Foto von Dalia Elyakim, einem der Opfer, auf die Treppe an der Gedächtniskirche.
Ein Trauernder stellte ein Foto von Dalia Elyakim, einem der Opfer, auf die Treppe an der Gedächtniskirche. © Getty Images | Sean Gallup
Eine Frau zündete eine Kerze an und stellte sie am Mahnmal ab.
Eine Frau zündete eine Kerze an und stellte sie am Mahnmal ab. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Die anwesenden Menschen waren zutiefst berührt.
Die anwesenden Menschen waren zutiefst berührt. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Schon vor der Veranstaltung sicherte die Polizei den Bereich um den Breitscheidplatz am Dienstag weiträumig ab.
Schon vor der Veranstaltung sicherte die Polizei den Bereich um den Breitscheidplatz am Dienstag weiträumig ab. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Auf umliegenden Gebäuden positionierten sich Scharfschützen, die das Gebiet in den Blick nahmen.
Auf umliegenden Gebäuden positionierten sich Scharfschützen, die das Gebiet in den Blick nahmen. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Auf dem geschlossenen Weihnachtsmarkt patrouillierten schwer bewaffnete Polizisten.
Auf dem geschlossenen Weihnachtsmarkt patrouillierten schwer bewaffnete Polizisten. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Der Weihnachtsmarkt blieb am Jahrestag des Anschlags geschlossen.
Der Weihnachtsmarkt blieb am Jahrestag des Anschlags geschlossen. © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Viele Menschen zündeten Kerzen an ...
Viele Menschen zündeten Kerzen an ... © Getty Images | Carsten Koall
... und stellten sie auf die Stufen vor der Gedächtniskirche.
... und stellten sie auf die Stufen vor der Gedächtniskirche. © Getty Images | Carsten Koall
„No terror“ – „kein Terror“: Ein Schild mit diesen Worten trug ein Mann, der zur Gedenkstelle vor der Gedächtniskirche gekommen, war auf seinem Rücken.
„No terror“ – „kein Terror“: Ein Schild mit diesen Worten trug ein Mann, der zur Gedenkstelle vor der Gedächtniskirche gekommen, war auf seinem Rücken. © Getty Images | Sean Gallup
Mit einem interreligiösen Gottesdienst wurde der Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz gedacht.
Mit einem interreligiösen Gottesdienst wurde der Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz gedacht. © dpa | Tobias Schwarz
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„Der Doc sagt, das ist die Erfahrung. Man fällt zurück in sein Muster, in seine Funktion“, sagt Frank Hoedt heute. Längst weiß er: Beim Einsatz nach dem ersten islamistischen Anschlag in Berlin hat die Feuerwehr alles richtig gemacht. Keiner der zwölf Toten hätte noch gerettet werden können. Doch die dunklen Augen haben ihn immer wieder vor Fragen gestellt.

Lebt ihr Mann noch? Hätte ich etwas tun können? Hoedt hatte schon 13 Stunden Einsatz auf der Feuerwache Suarez in Charlottenburg hinter sich, als er zum Breitscheidplatz gerufen wurde. Ständig wollte jemand Anweisung, Klarheit, Vergewisserung. Irgendwann gab Hoedt seine Weste mit dem Funkgerät ab, konnte nicht mehr.

64 Dienstunfallanzeigen hat die Berliner Feuerwehr nach dem Einsatz am Breitscheidplatz aufgenommen. Bei wie vielen eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, so wie bei Frank Hoedt, dazu will die Feuerwehr keine Angaben machen.

Kritik an Merkel überschattet Gedenken an Breitscheidplatz-Opfer

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    Wenn er Wochen nach dem Anschlag auf dem Heimweg war und am Potsdamer Platz viele Menschen in die Bahn stiegen, platzte dieses Gefühl rein. Es klemmte etwas in seinem Bauch ein, trieb den Puls hoch. Hoedt war wie im Rausch, blickte hektisch umher. Er hatte Angst. Mit dem Doc, wie er seinen Psychologen nennt, hat Hoedt wieder und wieder über den Einsatz gesprochen.

    Er hat gelernt, die Erinnerungen zu akzeptieren, über sie zu sprechen und trotzdem ruhig zu bleiben. Heute hält er Vorträge über den Einsatz und über seine Gefühle. Er sagt: „Nur wenn wir reden, können wir das verarbeiten.“ Am Jahrestag des Anschlags wird Hoedt wieder auf der Feuerwache Suarez im Einsatz sein. Auf dem gleichen Wagen wie damals.

    • Der Witwer

    Petr Čižmár, 39 Jahre und promovierter Physiker, wägt seine Worte, bevor er spricht. Nach mehr als einer Stunde Gespräch über den Anschlag am Breitscheidplatz hält er inne, denkt nach und sagt: „Ich hatte in den ersten Wochen das Gefühl, dass die Deutschen das Thema ganz schnell vergessen wollen. Wir müssen aber darüber sprechen, was da passiert ist. Wir müssen den Opfern ein Gesicht geben.“ Dass es ein Mahnmal mit den Namen der Opfer geben wird, findet er gut. Alle sollen wissen, wer die 34-jährige Nada Čižmár war.

    Petr Čižmár, gebürtiger Tscheche, lernte seine Frau vor zehn Jahren in den USA kennen. Sie verliebten sich, heirateten in den Staaten. Dort kam auch ihr Sohn David zur Welt, bevor die Familie nach Deutschland ging.

    Der 19. Dezember ist für Čižmár ein normaler Tag. Er bringt David in Braunschweig, wo er damals wohnt, in den Kindergarten und geht zur Arbeit. Wie jeden Tag telefoniert er mit seiner Frau. „Sie hat mir noch gesagt, dass sie auf den Weihnachtsmarkt gehen möchte“, erinnert er sich. Dass etwas in Berlin passiert ist, erfährt Čižmár über Facebook, als er nachts auf sein Handy schaut.

    Petr Cižmár lebt jetzt in Dresden. Seine Frau Nada war auf dem Breitscheidplatz ums Leben gekommen.
    Petr Cižmár lebt jetzt in Dresden. Seine Frau Nada war auf dem Breitscheidplatz ums Leben gekommen. © dpa | Sebastian Kahnert

    Eine Kollegin von Nada hat geschrieben, dass seine Frau sich nicht melde. „Ich dachte, dass sie sich noch melden wird“, sagt er. Doch nichts passiert. Als am nächsten Morgen die Polizeihotline überlastet ist, macht sich Čižmár auf den Weg nach Berlin. Er gibt eine Vermisstenanzeige auf, füllt detaillierte Identifizierungsformulare aus. Da ahnt Čižmár schon, dass er Nada nicht mehr wiedersehen wird.

    Gewissheit hat er zwei Tage später, als sich die tschechische Botschaft meldet und einen Besuch des Botschafters ankündigt: „Der Botschafter kommt nicht aus Berlin nach Braunschweig, um mir zu sagen, dass alles in Ordnung ist.“ Fünf Minuten nach dem Anruf klingelt die Braunschweiger Polizei.

    • Der Helfer

    Ali D. (Name geändert) kann die Geschichte immer noch nicht richtig erzählen. Er fängt an zu zittern, wenn er versucht, sich zu erinnern. Sein rechtes Knie wippt, und er versucht es mit beiden Händen festzuhalten. Der Rollstuhl vibriert. Aber er will loswerden, was er erlebt hat.

    Am 19. Dezember vergangenen Jahres ist Ali D. am Kurfürstendamm unterwegs, um ein Weihnachtsgeschenk für seinen zwölfjährigen Sohn zu kaufen. Er hört plötzlich ein lautes Rumsen, sieht noch, wie der Lkw zum Stehen kommt. Er schaltet an seinem Handy die Lampe ein. Geht hin zum, wie er denkt, Unfallort. Will helfen. Betritt eine Weihnachtsbude, die schief steht, weil sie von dem Lkw getroffen wurde. Sieht in dem Licht seiner Handy-Lampe Menschenkörper liegen.

    Ali D. in seinem Kiez Friedrichshain. Er braucht dringend eine rollstuhlgerechte Wohnung.
    Ali D. in seinem Kiez Friedrichshain. Er braucht dringend eine rollstuhlgerechte Wohnung. © BM | Michael Mielke

    Bei zweien erfasst er sofort, dass sie tot sind. Eine dritte Person – er weiß nicht mehr ob Mann oder Frau – schleppt er nach draußen. Plötzlich entdeckt er ein Feuer, eine zuckende Flamme direkt an einer Gasflasche. „Ich habe nur noch gedacht, ich muss hin und die Flasche zudrehen“, sagt er, „sonst geht das Ding hoch wie eine Bombe.“ Er schafft es noch, das Ventil zuzudrehen – dann bricht das Häuschen über ihm zusammen.

    Er weiß noch, dass er an den Füßen in ein Zelt geschleift wurde. Danach ist alles dunkel. Tage später erwacht er im Krankenhaus aus dem Koma. Seitdem ist Ali D. gelähmt, kann sich nur im Rollstuhl bewegen. Er ist 41 Jahre alt, ein schlanker, sportlicher Mann. „Diese Abhängigkeit, das macht mich verrückt. Ich bin in einem Loch!“, sagt D.

    Seit einigen Wochen kümmern sich Mitarbeiterinnen des Sozialverbandes VDK Berlin-Brandenburg um ihn. Sie helfen bei Anträgen von der Anerkennung als Schwerbehinderter bis zum Antrag auf Ausstellung eines Wohnberechtigungsscheines. D. braucht dringend eine rollstuhlgerechte Wohnung.

    Und es gibt noch ein Verfahren, das Ali D., der 1997 als Kriegsflüchtling aus dem Libanon kam, sehr am Herzen liegt: Er möchte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.